Anthroposophie ist ein Weg zur spirituellen Welterkenntnis durch geistige Selbsterkenntnis. Durch unsere Seele und durch unseren individuellen Geist leben wir ebenso in einer uns umgebenden seelischen und geistigen Welt, wie wir durch unseren Leib in der physischen Welt leben. Und so wie wir durch unsere Sinne die äußere Natur erfassen, so sind in unserem Seelenleben und unserer bewussten Geistestätigkeit bereits die geistigen Organe veranlagt, durch die wir erkennend in die durch das äußere Dasein verhüllte seelische und geistige Welt vordringen können. Dazu müssen die in uns veranlagten Geistorgane allerdings erst derart erweckt werden, dass sie ihre Befangenheit in unserem Eigensein überwinden und sich für die geistige Außenwelt öffnen. So wie wir die sinnliche Welt durch das Auge nur dadurch sehen können, dass es sich selbst ganz durchlässig macht und nicht als störende Trübung die Wahrnehmung behindert, so ist es in einem höheren Sinn auch mit unseren geistigen Wahrnehmungsorganen. Dazu ist eine konsequente, auf Konzentrations- und Meditationsübungen beruhende geistige Schulung nötig. Für diesen „Einweihungsweg“ hat Rudolf Steiner reiche Anregungen gegeben. Gelingt es, willentlich die Aufmerksamkeit zeitweilig von der äußeren Sinneswelt und der bloßen inneren Selbstwahrnehmung abzulenken und ganz auf die feinen, normalerweise kaum bewussten Untertöne unseres Seelenlebens zu richten, öffnet sich, unter völliger Beibehaltung des klaren, besonnen Denkens, nach und nach der Blick auf die geistige Welt, die uns umgibt. Methodisch geht Anthroposophie dabei über die überlieferten Methoden mystischer Versenkung oder ekstatischer Trance hinaus, insofern durch diese die geistige Welt nur in einem herabgedämpften, traumartigen Bewusstsein erfahren werden konnte.
Es enthüllen sich auf diesem Weg nicht nur die geistigen Hintergründe des äußeren Daseins, sondern es werden derart auch Weltbereiche der Erfahrung zugänglich, die keine unmittelbare Entsprechung in der sinnlichen Welt haben. Insbesondere wird dadurch auch das Schicksal des Menschen nach dem Tod, wenn er seine leibliche Hülle abgelegt hat, offenbar. Was als unser Seelisches und Geistiges auf Erden in dieser Hülle war, lebt nach dem Tod in verwandelter Form in der geistigen Welt weiter und schöpft aus dieser starke Kräfte, mit denen es nach kürzerer oder längerer Zeit zu einem neuen Erdenleben herabsteigt. Die vor allem in den fernöstlichen Traditionen verwurzelte Lehre von Reinkarnation und Karma, von Schicksal und Wiedergeburt, wird durch die Erkenntnisse der Anthroposophie bestätigt, aber nicht im Sinne eines fatalistischen Schicksalsverhängnisses aufgefasst, sondern als Chance, die eigene geistige Individualität durch wiederholte Erdenleben immer weiter zu entwickeln, wie es früher schon Gotthold Ephraim Lessing in seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“ angedeutet hatte und auch den wesentlichen Hintergrund von Steiners Mysteriendramen bildet. Dem irdischen Leben und der damit verbundenen Verantwortung, die hier und nur hier erübt werden kann, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Anthroposophie steht dadurch in vollem Einklang mit einem recht verstandenen Christentum und dem Erdenleben des Jesus Christus und seinem Tod am Kreuz auf Golgatha misst Rudolf Steiner höchste Bedeutung für die Menschheitsentwicklung zu.