"Große und kleine Mysterien gab es. Der nach mancherlei Prüfungen Zugelassene sah in den kleinen Mysterien dramatische Vorstellungen der ewigen Wahrheiten, die der höher Eingeweihte in sich selbst erlebt." (Lit.: GA 97, S 78)  [weiter ..]

Die vier Mysteriendramen Rudolf Steiners

"Was diese Auserwählten erleben konnten und was die Eingeweihten auch heute noch erleben können, war für die andern, in den kleinen Mysterien, ein Ideal, das sie alle zu erreichen hoffen durften, der eine bald, der andere später." (Lit.: GA 97, S 79) [weiter ...]
Johannes, Maria und Benedictus (Die Pforte der Einweihung, 7. Bild)
Johannes, Maria und Benedictus (Die Pforte der Einweihung, 7. Bild)

Die Mysteriendramen Rudolf Steiners sind der Versuch, den Einweihungsweg einzelner, konkreter individueller Menschen in künstlerischer Form dramatisch darzustellen. Vier Mysteriendramen hat Rudolf Steiner vollendet, ein fünftes, das laut Marie Steiner eine Rückschau auf Ereignisse an der kastalischen Quelle in Delphi bringen sollte, war schon in groben Zügen umrissen, doch kam es durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zur weiteren Ausarbeitung des Entwurfs. Vermutlich sollten insgesamt sieben (vereinzelt wird sogar von zwölf gesprochen) Dramen entstehen, in denen auch immer wieder Rückblicke in frühere Inkarnationen der handelnden Personen gegeben worden wären, wodurch sich schließlich ein vollständiges Panorama der geistigen Entwicklung der Menschheit ergeben hätte (Lit.: Hammacher 1995, S 112).

Die Mysteriendramen sind, wie Steiner selbst immer wieder betonte, nichts Vollendetes, sie sind ein keimhafter Anfang, ein Neubeginn – ein Anfang in künstlerisch-dramatischer Hinsicht einerseits, in dem ein kraftvoller Impuls zur Neubelebung der Theaterwelt überhaupt liegt, anderseits ist in ihnen zugleich ein zukunftsweisender Weg aufgezeigt, geistige Wahrheiten in sehr lebendiger, konkreter Form an die Menschen heranzubringen.

"Das Drama der Reinkarnation ist das neue Drama, alles andere sind Nachzügler, gabrielische Nachzügler. Aber das wirklich in die Zukunft gehende Drama der Moderne, das michaelische Drama, muss den Menschen im Durchgang durch die Inkarnation erlebbar machen. Eigentlich müssten, gleichsam um die Mysteriendramen Rudolf Steiners herum tausend Dramen geschrieben werden, auch Komödien. So dass dieser Gedanke und das entsprechende Lebensgefühl in der Begegnung mit dem anderen Menschen Selbstverständlichkeiten werden." (Lit.: Gespräch mit W. Hammacher, in Der Europäer Jg. 8 / Nr. 12 / Oktober 2004, S 10f)

1907, auf dem Münchner Kongress der Theosophischen Gesellschaft, hatte Rudolf Steiner Eduard Schurés Rekonstruktion des „Dramas von Eleusis“ auf die Bühne gebracht, später folgten Schurés „Kinder des Luzifer“. Das waren aber alles Rückgriffe auf die Vergangenheit, die ganz aus dem Geiste der Verstandesseelenkultur lebten, abgesehen davon, dass beide Werke höheren künstlerischen Ansprüchen kaum genügen können. Aber etwas Besseres, in dem auf künstlerische Weise geistige Wahrheiten enthüllt wurden, gab es damals nicht. So suchte Steiner nach einem geistigen Inhalt und einer künstlerischen Form, die dem Bewusstseinsseelenzeitalter gerecht werden konnte und kam dabei zunächst auf Goethes „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“, das er in dramatisierter Form auf die Bühne bringen wollte, doch gewann die Sache bald ein Eigenleben. In der ersten Niederschrift sind die Namen der handelnden Personen noch aus Goethes Märchen genommen, doch indem die Märchenfiguren nach und nach zu eigenständigen Bühnenpersönlichkeiten aus Fleisch und Blut heranwuchsen, mussten auch andere Namen gefunden werden, die ihren geistigen Charakter besser unterstreichen sollten. Indem sich auch die Handlung immer mehr zu metamorphosieren begann, entstand schließlich ein völlig eigenständiges Drama, bei dem aber der Bezug zu Goethes Märchen immer wieder spürbar wird.

Link: Die Mysteriendramen Rudolf Steiners (PDF)

Capesius und Strader (Die Pforte der Einweihung, 1. Bild)
Capesius und Strader (Die Pforte der Einweihung, 1. Bild)

In den Vorbemerkungen zu GA 44 (Entwürfe, Fragmente und Paralipomena zu den vier Mysteriendramen) heißt es:

"Die «Vier Mysteriendramen» wurden erstmals in München anläßlich der Sommerfestveranstaltungen 1910, 1911, 1912 und 1913 als geschlossene Vorstellungen für die Anthroposophische Gesellschaft aufgeführt. Die Darsteller waren sämtlich Mitglieder der Gesellschaft, einzelne Berufsschauspieler. Rudolf Steiner inszenierte die Dramen selbst. Die Textniederschrift erfolgte jeweils vor Beginn oder auch während der Probenarbeit. Ein bereits angekündigtes fünftes Drama konnte im Jahre 1914 infolge des Kriegsausbruches nicht mehr aufgeführt werden. Später sollten dann die Dramen im inzwischen in Dornach errichteten Goetheanumbau im Sommer 1923 in Szene gesetzt werden. Der Brand des Goetheanum in der Silvesternacht 1922/23 machte dies unmöglich. Nach dem Tode von Rudolf Steiner studierte Marie Steiner, die in München die weibliche Hauptrolle der Maria verkörpert hatte, mit dem von ihr ausgebildeten Schauspiel-Ensemble im zweiten Goetheanum die Dramen ein, welche nun seit Jahrzehnten dort öffentlich zur Aufführung gelangen." (Lit.: GA 44, S 8)

Zur den geistigen Grundlagen der Dramenentwürfen gibt Marie Steiner wichtige Hinweise, wenn sie im Frühjahr 1946 folgendes schreibt:

"Unter den Notizbüchern Rudolf Steiners gibt es solche, in denen meditative Inhalte festgehalten sind, die wie Vorentwürfe wirken für das, was im Drama später umgegossen wurde zu Dialogen oder bewegten Szenen. Die esoterischen Motive wurden in die Gesamtkomposition eingegliedert; es wurde ihnen die künstlerische Form gegeben, die dem Aufbau des Ganzen entsprach." (GA 44, ebenda)

Den geradezu revolutionären geistigen und künstlerischen Gehalt von Steiners Mysteriendramen unterstrich Erich Hofacker, wenn er 1934 schrieb:

"In jenen Jahren kurz vor dem Weltkrieg, da sich die erste Sturzwelle des Expressionismus über Deutschland ergoss, wurden auch die vier Mysteriendramen Rudolf Steiners in München vor einem Kreis von Auserwählten zum ersten Mal aufgeführt. Fremdartig, lebensfern, ja verstiegen mussten, bei oberflächlicher Betrachtung, diese "Seelenvorgänge in szenischen Bildern" dem Zuschauer erscheinen, der das herkömmliche Drama naturalistischer Prägung gewohnt war. Selbst die Führer des expressionistischen Dramas mit ihrer eben damals mächtig aufwallenden Sehnsucht nach dem Göttlichen im Menschen, mit ihrer Verkündigung des "neuen Menschen," wie sie bereits wenige Monate nach der Aufführung des vierten Mysterienspiels von Steiner in Kaisers Bürger von Calais bedeutsam erklang – selbst diese Propheten eines neuen Menschentums hätten wohl beim Anhören der Mysteriendramen kaum erkannt, dass hier eine geistige Wandlung des Menschen geschildert wurde, die in Nöten und Beseligungen, in Schrecken und Erhabenheit ihre eigenen kühnsten Ahnungen überragte." (Lit.: Hofacker, S 74)

Goethes Märchen als Grundlage der Mysteriendramen Rudolf Steiners

"Was als das große christliche Ereignis stattfand, war eine physische Wiederholung dessen, was sich in den Mysterien für jeden Eingeweihten abgespielt hat, in den kleinen Mysterien im Bilde, in den großen Mysterien im Inneren des Menschen." (Lit.: GA 97, S 79) [weiter ...]
Die grüne Schlange aus Goethes Märchen (Illustration von Gustav Wolf, 1922)
Die grüne Schlange

Rudolf Steiner ist den Weg, den Goethe durch sein Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie bezeichnet hat, konsequent weiter gegangen und hat auf der Grundlage des Märchens nicht nur seine Mysteriendramen geschrieben, sondern die ganze Anthroposophie ist, nach Steiners eigenen Worten, aus der "Urzelle" jenes Vortrages über Goethes geheime Offenbarung hervorgegangen, den er am 29. September 1900 in der Theosophischen Bibliothek in Berlin gehalten hatte (Lit.: Lindenberg, S 298). Grundlage dieses Vortrags war der gleichnamige Aufsatz, den Steiner am 26. August 1899 anläßlich Goethes 150. Geburtstages über dessen Märchen veröffentlicht hatte (Lit.: GA 30, S 86ff).

Link: Rudolf Steiner: Goethes geheime Offenbarung (PDF)

In Mein Lebensgang schreibt Steiner:

"Der Wille, das Esoterische, das in mir lebte, zur öffentlichen Darstellung zu bringen, drängte mich dazu, zum 28. August 1899, als zu Goethes hundertfünfzigstem Geburtstag, im «Magazin» einen Aufsatz über Goethes Märchen von der «grünen Schlange und der schönen Lilie» unter dem Titel «Goethes geheime Offenbarung» zu schreiben. — Dieser Aufsatz ist ja allerdings noch wenig esoterisch. Aber mehr, als ich gab, konnte ich meinem Publikum nicht zumuten. - In meiner Seele lebte der Inhalt des Märchens als ein durchaus esoterischer. Und aus einer esoterischen Stimmung sind die Ausführungen geschrieben.

Seit den achtziger Jahren beschäftigten mich Imaginationen, die sich bei mir an dieses Märchen geknüpft haben. Goethes Weg von der Betrachtung der äußeren Natur zum Innern der menschlichen Seele, wie er ihn sich nicht in Begriffen, sondern in Bildern vor den Geist stellte, sah ich in dem Märchen dargestellt. Begriffe schienen Goethe viel zu arm, zu tot, um das Leben und Wirken der Seelenkräfte darstellen zu können.

Nun war ihm in Schillers «Briefen über ästhetische Erziehung» ein Versuch entgegengetreten, dieses Leben und Wirken in Begriffe zu fassen. Schiller versuchte zu zeigen, wie das Leben des Menschen durch seine Leiblichkeit der Naturnotwendigkeit und durch seine Vernunft der Geistnotwendigkeit unterliege. Und er meint, zwischen beiden müsse das Seelische ein inneres Gleichgewicht herstellen. In diesem Gleichgewicht lebe dann der Mensch in Freiheit ein wirklich menschenwürdiges Dasein.

Das ist geistvoll; aber für das wirkliche Seelenleben viel zu einfach. Dieses läßt seine Kräfte, die in den Tiefen wurzeln, im Bewußtsein aufleuchten; aber im Aufleuchten, nachdem sie andere ebenso flüchtige beeinflußt haben, wieder verschwinden. Das sind Vorgänge, die im Entstehen schon vergehen; abstrakte Begriffe aber sind nur an mehr oder weniger lang Bleibendes zu knüpfen.

Das alles wußte Goethe empfindend; er setzte sein Bildwissen im Märchen dem Schiller'schen Begriffswissen gegenüber.

Man ist mit einem Erleben dieser Goethe'schen Schöpfung im Vorhof der Esoterik.

Es war dies die Zeit, in der ich durch Gräfin und Graf Brockdorff aufgefordert wurde, an einer ihrer allwöchentlichen Veranstaltungen einen Vortrag zu halten. Bei diesen Veranstaltungen kamen Besucher aus allen Kreisen zusammen. Die Vorträge, die gehalten wurden, gehörten allen Gebieten des Lebens und der Erkenntnis an. Ich wußte von alledem nichts, bis ich zu einem Vortrage eingeladen wurde, kannte auch die Brockdorffs nicht, sondern hörte von ihnen zum ersten Male. Als Thema schlug man mir eine Ausführung über Nietzsche vor. Diesen Vortrag hielt ich. Nun bemerkte ich, daß innerhalb der Zuhörerschaft Persönlichkeiten mit großem Interesse für die Geistwelt waren. Ich schlug daher, als man mich aufforderte, einen zweiten Vortrag zu halten, das Thema vor: «Goethes geheime Offenbarung». Und in diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu lassen." (Lit.: GA 28, S 292f)

Link: Das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie (Berlin, 5. April 1904; PDF)

Link: Die okkulte Grundlage in Goethes Schaffen (London, 10. Juli 1905; PDF)

Goethes geheime Offenbarung und die Michaelschule

Der genannte Vortrag über «Goethes geheime Offenbarung» wurde, wie schon oben erwähnt, von Rudolf Steiner zu Michaeli 1900 gehalten. In den 1924 gehaltenen Karma-Vorträgen hat Rudolf Steiner später dargestellt, wie sich in Goethes Märchen ein schwacher Abglanz des Michael-Kultus findet, der sich Ende des 18. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in der geistigen Welt in gewaltigen Imaginationen entfaltete, die ein fruchtbares Ergebnis jener Michael-Schule waren, die von dem Erzengel Michael zu Beginn des 15. Jahrunderts in der übersinnlichen Welt eingerichtet worden war. Aus diesen Imaginationen ist auch die Anthroposophie hervorgegangen. (Lit.: GA 240)

"Oben in der geistigen Welt spielte sich ab in mächtigen kosmischen Imaginationen die Vorbereitung für jene intelligente, aber durchaus spirituelle Erschaffung, die dann als Anthroposophie erscheinen sollte. Was da durchsickerte: auf Goethe machte es einen bestimmten Eindruck. Ich möchte sagen, es kam in Miniaturbildern bei ihm durch. Die großen, gewaltigen Bilder, die sich da oben abspielten, kannte Goethe nicht; er verarbeitete diese Miniaturbildchen in seinem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie». Eine wunderbare Erscheinung! Wir haben die ganzen Strömungen, die ich geschildert habe, so sich fortsetzend, daß sie zu jenen mächtigen Imaginationen führen, die oben in der geistigen Welt unter der Führung des Alanus ab Insulis und der anderen sich abspielen; wir haben das Mächtige, daß da Dinge durchsickern und Goethe an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts begeistern zu seinem spirituellen Märchen «Von der grünen Schlange und der schönen Lilie». Es war sozusagen ein erstes Herauskommen desjenigen, was zunächst in mächtigen Imaginationen im Beginne des 19., sogar schon am Ende des 18. Jahrhunderts sich in der geistigen Welt abspielte. Sie werden es daher nicht wunderbar finden, daß im Hinblick auf diesen übersinnlichen Kultus, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand, mein erstes Mysteriendrama, «Die Pforte der Einweihung», das ja in einer gewissen Weise in dramatischer Form wiedergeben wollte, was sich da im Beginne des 19. Jahrhunderts abspielte, äußerlich in der Struktur etwas ähnlich wurde dem, was Goethe in seinem Märchen «Von der grünen Schlange und der schönen Lilie» dargestellt hat." (Lit.: GA 240, S 178)

Märchenstimmung und Phantasie

"In den kleinen Mysterien wurde das wichtige Erlebnis des inneren Christus in einer ganz bestimmten Zeit des Jahres dargestellt, wo die Sonne am wenigsten Licht auf die Welt sendet, in der längsten Winternacht - wie heute noch am Weihnachtsfest." (Lit.: GA 97) [weiter ...]
Szene aus Goethes Märchen (Gustav Wolf, 1922)
Szene aus Goethes Märchen (Gustav Wolf, 1922)

Im Märchen kann sich die künstlerische Phantasie am freiesten entfalten, um geistige Erlebnisse in sinnlichen Bildern darzustellen. Märchen sind auch die beste Vorbereitung für eigene geistige Schauungen. In den Mysteriendramen wird dem Capesius gerade durch die Märchen, die Frau Balde erzählt, der Weg zur eigenen geistigen Schau gebahnt.

Den Zusammenhang zwischen der Märchenstimmung und der künstlerischen Phantasie veranschaulichte Rudolf Steiner in einem Vortrag zum zweiten Mysteriendrama „Die Prüfung der Seele“ selbst durch ein Märchen, das er erzählte, nämlich durch das Märchen von dem armen Burschen und der klugen Katze:

„Es war einmal ein armer Bursche. Der hatte eine kluge Katze. Und die kluge Katze verhalf dem armen Burschen, der nichts hatte außer ihr selber, zu einem großen Besitz. Sie bewirkte es nämlich, daß man dem Könige hinterbrachte, der arme Bursche hätte einen großen, wunderschönen, merkwürdigen Besitz, den sogar ein König mit Neugierde betrachten könnte. Und die kluge Katze brachte es dahin, daß der König sich aufmachte und durch allerlei höchst merkwürdige Gegenden fuhr. Überall wurde dem König weisgemacht, durch die Veranstaltungen der klugen Katze, daß der weite Besitz von Gefilden und von allerlei Baulichkeiten höchst merkwürdigster Art diesem Burschen gehöre. Da kam der König zuletzt auch noch zu einem großen zauberhaften Schloß. Aber er kam für die Verhältnisse, die im Märchen spielen, etwas spät. Denn schon war die Zeit herangerückt, wo der große Riese oder Troll nach Hause heimkehrte von der Weltenwanderung und wieder hineingehen wollte in den Palast, der eigentlich diesem Riesen gehörte. Der König war eben in dem Palast und wollte sich alles Zauberhafte und Wundersame anschauen. Da legte sich denn die kluge Katze vor die Tür hin, damit der König nicht merke, daß das alles dem Riesen gehöre, dem Troll. Da der Riese heimkehrte gegen die Morgenstunde, begann die Katze dem Riesen eine Geschichte zu erzählen, von der sie ihm klarmachte, daß er sie anhören müßte. Und sie erzählte ihm mit großer Geschwätzigkeit, wie der Bauer sein Feld pflügt, wie er seinen Acker düngt, wie er dann wieder umpflügen muß, wie er dann die Samen holt, die er in den Acker streuen will, wie er dann die Samen in den Acker bringt. Kurz, sie erzählte ihm eine so lange Geschichte, daß es Morgen wurde und die Sonne aufging. Und da sagte die kluge Katze, jetzt müsse der Riese, der doch noch niemals die goldene Jungfrau im Osten gesehen hat, bleiben und sich die goldene Jungfrau an­sehen, müsse sich die Sonne ansehen. Aber - so ist es nach einem Gesetz, dem die Riesen unterstehen - als der Riese sich umdrehte und die Sonne ansah, da zerplatzte er. Und die Folge war, daß jetzt tatsächlich durch die Hintanhaltung des Riesen der Palast dem armen Burschen zugefallen war. Und er hatte nicht nur durch die Machinationen der klugen Katze all den Besitz, den sie ihm vorher nur zugesprochen hatte, sondern er besaß jetzt wirklich den Riesenpalast und alles, was dazu­gehörte.“ (Lit.: GA 127, S 197f)

Der arme Bursche sind wir selbst, seit wir den unmittelbaren Kontakt zur geistigen Welt verloren haben, und die kluge Katze haben wir zweifellos auch, denn die kluge Katze ist unser sinnlicher Verstand. Aber unser Verstand kann uns zunächst nur einen imaginären Besitz der geistigen Schätze geben, soviel wir uns auch in Philosophie, Metaphysik usw. üben. Dennoch wurzeln wir mit unserem wahren Wesen, mit unserem höheren Ich, das im Märchen durch den König repräsentiert wird, in der geistigen Welt, nur fehlt uns das Bewusstsein dafür. In unserem Unterbewusstsein aber lebt ein riesenhaftes, allerdings noch ungeübtes, tollpatschig-trollhaftes Wissen von den geistigen Welten. Vor dem klaren Verstandeslicht hat es zwar keinen Bestand, da muss es wie eine Seifenblase zerplatzen, aber es vermag uns doch einen Palast zu bauen, in dem etwas von den Schätzen der höheren Welten sichtbar wird – sichtbar wird eben durch die künstlerische Phantasie, die übrigbleibt, wenn der riesenhafte Troll am hellen Tageslicht des Bewusstseins zerplatzt.

Individuelle Wege in die geistige Welt

"Führen wir uns das Bild vor Augen, das den Sinn der inneren Menschenentwickelung in den kleinen Mysterien symbolisierte. In heiliger Weihestimmung waren die Menschen, die es sehen sollten, in der Weihnacht, in völliger Finsternis der Mitternacht versammelt. Da ertönte ein eigentümlich dumpfes, donnerndes Getöse, das sich allmählich in wundervolles rhythmisches Tönen, in harmonische Klänge verwandelte - die Sphärenmusik. Und ein schwach erhellter Körper, eine in der Finsternis matt leuchtende Kugel wurde sichtbar, welche die Erde symbolisieren sollte. Aus der schwach leuchtenden Erdscheibe erstanden allmählich ineinanderfließende, zu den Tönen gehörende regenbogenfarbige Ringe, die sich nach allen Seiten verbreiteten - die göttliche Iris." (Lit.: GA 97) [weiter ...]

Der Zugang zur geistigen Welt kann nicht auf einem allgemein verbindlichen, für alle Menschen genau gleichen Weg gefunden werden. Zwar liegen allen Schulungswegen notwendig gemeinsame Prinzipien zugrunde, doch wirksam beschritten können sie nur werden, wenn dabei auch die spezifischen Voraussetzungen des jeweiligen Menschen oder der jeweiligen zusammengehörigen Menschengruppe berücksichtigt wird.

In alten vorchristlichen Zeiten, als die Menschen noch kollektiver und mehr durch den Gruppengeist ihres Volkes bestimmt waren, hatte im Grunde jedes Volk seinen eigenen Einweihungsweg und erfolgreich konnte er auch letztlich nur innerhalb dieser jeweiligen Menschengemeinschaft beschritten werden. Der Yoga Schulungsweg unterscheidet sich deutlich vom Achtgliedrigen Pfad des Buddha; die Persische Einweihung geht andere Wege als die Ägyptischen Mysterien und diese sind wieder verschieden von den Einweihungsritualen in den Mysterien von Ephesos, Eleusis oder Samothrake. Wieder einen ganz anderen Charakter hatten die Hybernischen Mysterien, deren Ursprünge weit in die prähistorische Zeit zurückreichen, sich aber später innig mit dem Christentum verbanden, nachdem man im inneren geistigen Schauen das Mysterium von Golgatha zeitgleich zu den Ereignissen in Palästina miterlebt hatte. In «Die Pforte der Einweihung» wird gezeigt, wie gerade Maria in einer frühmittelalterlichen Inkarnation als Christusbote aus den hybernischen Mysterien zu jenem Stamm gekommen war, wo Johannes damals in weiblicher Inkarnation lebte und wo noch die Götter Odin und Baldur verehrt wurden.

Für den heutigen, durch die abendländische Kultur geprägten Menschen sind alle diese altehrwürdigen Pfade kaum mehr gangbar. Selbst der Christliche Schulungsweg, wie er im Mittelalter bis hin in die frühe Neuzeit gepflegt wurde, kann heute nur noch von wenigen Menschen erfolgreich beschritten werden.

Der christliche Einweihungsweg unterscheidet sich von allen anderen Wegen dadurch, dass innerhalb dieses Weges der Mensch nicht durch eigene Anschauung zur Erkenntnis von Reinkarnation und Karma kommen kann und es war durchaus notwendig, dass der Mensch wenigstens einmal eine Inkarnation durchlebte, in der er keine Kenntnisse der früheren Erdenleben hatte - und das gilt auch für den christlichen Eingeweihten:

"Damit der Mensch sich dachte, die eine Inkarnation sei die einzige, dazu war notwendig, daß etwas das Gehirn von der Erkenntnis von den höheren Prinzipien im Menschen, von Atma, Buddhi, Manas und von der Erkenntnis der Reinkarnation abschnitt. Dazu wurde den Menschen der Wein gegeben. Früher war bei allem Tempelkultus nur das Wasser gebraucht worden. Dann wurde der Gebrauch des Weines eingeführt, und sogar ein göttliches Wesen, Bacchus, Dionysos, war der Repräsentant des Weines. Der tiefsteingeweihte Jünger, Johannes, enthüllt in seinem Evangelium, was der Wein für die innere Entwickelung bedeutet. Bei der Hochzeit von Kana in Galiläa wird das Wasser in Wein verwandelt. Durch den Wein wurde der Mensch so zubereitet, daß er die Reinkarnation nicht mehr verstand. Damals wurde das Opferwasser in Wein verwandelt, und wir sind jetzt wieder dabei, den Wein in Wasser zu verwandeln. Wer hinaufkommen will in die höheren Gebiete des Daseins, der muß sich jeden Tropfens Alkohol enthalten. (Lit.: GA 097, S 22)

Die Tempelritter, die in den mittelalterlichen Szenen in «Die Prüfung der Seele» eine zentrale Rolle spielen, sind diesen Weg gegangen, allerdings in einer mehr unbewussten, unsystematischen Weise, indem sie sich mit ungeheurer Gemütstiefe in die Schilderungen des Mysteriums von Golgatha versenkt haben, wie sie namentlich im zweiten Teil des Johannes-Evangeliums gegeben werden. Und sie haben sich dabei offenbar dennoch gewisse Grundkenntnisse über die wiederholten Erdenleben des Menschen errungen - ein Zeichen dafür dass hier schon die Kräfte des kommenden, neuen Bewusstseinsseelenzeitalters hereinleuchten und die Zeit der mystischen Gefühlseinweihung abläuft.

"Worte sind ohnmächtig, das zu beschreiben, was in den Seelen solcher Menschen lebte, in jenen Seelen, die pflichtgemäß niemals wanken durften, und auch, wenn eine dreifach stärkere Macht äußerlich auf dem physischen Plane ihnen entgegenstand, nicht flüchten durften, sondern ruhig den Tod erwarten mußten, den Tod, den sie ertragen wollten, um zu befestigen im Erdendasein den Impuls, der von dem Mysterium von Golgatha ausgegangen ist. Das war intensives Leben des ganzen Menschen mit dem Mysterium von Golgatha. Und wenn sich solch intensives Leben in entsprechenden Rhythmen in den Menschenseelen so ereignet, daß es sich hineinstellt in das ganze kosmischirdische Strömen der Kräfte, dann entwickelt sich aus solchem Leben Bedeutendes, wohlgemerkt: Bedeutendes. Ich sage, wenn sich solches Bewußtsein hineinstellt mit einem gewissen Rhythmus innerlichmystisch in das, was äußerlich geschieht, dann kann man gewiß vieles erleben, das die eigene Seele mit dem Göttlich-Geistigen in Zusammenhang stellt. Aber noch anderes, Wirksameres wird dann entwickelt, wenn solches inneres Erleben, zusammengefaßt mit dem äußeren geschichtlichen Werdegang, nun in den Dienst dieses äußeren geschichtlichen Werdegangs gestellt ist. Was im Dienste der Wiedererringung der Macht über das Heilige Grab damals getan werden sollte, mit dem sollte in Übereinstimmung stehen das, was im Bewußtsein der Tempelritterseelen lebte. Dadurch entwickelte sich ein besonderes mystisches Leben, durch das diejenigen, die diesem sogenannten geistlichen Orden angehörten, immer mehr für die Welt wirken konnten als andere geistliche Orden. Denn wenn in solcher Weise eben im Zusammenhange mit dem Leben der Umwelt mystisch gelebt wird, dann strömt das, was mystisch erlebt wird, in die unsichtbaren, in die übersinnlichen Kräfte der Umwelt des Menschen hinein, wird objektiv, ist dann nicht bloß innerlich in der Seele des Menschen, sondern wirkt im geschichtlichen, im historischen Werden weiter. Durch solche Mystik wird nicht nur seelisch etwas erlebt für das einzelne menschliche Individuum, sondern es wird Seelisches; objektiv gestaltete Mächte, die vorher nicht da waren in der spirituellen Strömung, welche die Menschheit trägt und hält, die werden geboren, die sind dann da. Wenn der Mensch sein Tagewerk vollbringt mit seiner Hände oder mit seiner sonstigen Werkzeuge Arbeit, so stellt er etwas Äußerliches, Materielles in die Welt hinein. Mit solcher Mystik, wie die Tempelritter sie entfaltet haben, wird Geistiges in das Geisttum der Erde hineingestellt. Dadurch aber, daß dieses geschah, wurde die Menschheit wirklich eine Etappe weitergebracht in ihrer Entwickelung. Das Mysterium von Golgatha wurde durch dieses Erleben der Templer auf einer höheren Stufe als vorher verstanden und auch erlebt. Es war jetzt etwas da über dieses Mysterium von Golgatha, was vorher nicht dagewesen war. Die Seelen der Templer hatten aber dadurch noch etwas Besonderes erreicht.

Durch dieses intensive Sich-Hineinleben in das Mysterium von Golgatha hatten diese Seelen die Macht erlangt, die christliche Einweihung durch dieses historische Ereignis wirklich zu erreichen. Diese christliche Einweihung, man kann sie so erreichen, wie es in unseren Schriften geschildert ist; aber hier durch die Templer wurde diese christliche Einweihung so erreicht, daß die äußeren Taten und der Enthusiasmus, der in den äußeren Taten lebte, die Seelen der Templer heraustrug, so daß diese Seelen, abgesehen vom Leibe, außer dem Leibe, in dem geistigen Werdegang der Menschheit mitlebten, durchdrangen, seelisch-geistig durchdrangen die Geheimnisse von Golgatha. Da wurde vieles nicht nur für die einzelnen Seelen, sondern für die Menschheit erlebt. Das ist das Wichtige, das ist das Bedeutsame." (Lit.: GA 171, S 196ff)

Die Templerritter mussten dabei aber auch all die Anfechtungen durch die Widersachermächte erleben, die jede geistige Entwicklung, egal welchen Weg man geht, notwendig begleiten und besteht auch immer die sehr reale Gefahr, den luziferischen und ahrimanischen Verführungen zu verfallen. Diese Erlebnisse sind dramatisch und es gehört Mut dazu, sich ihnen zu stellen. Die Mysteriendramen schildern immer wieder solche Erlebnisse und sie verlangen danach, auch entsprechend dramatisch dargestellt zu werden. Die für die geistige Schulung notwendige Besonnenheit muss diesen Erfahrungen immer wieder und auf jeder Entwicklungsstufe neu abgerungen werden.

"Aber sie hatten, weil das bei jedem so ist, der in die geistige Welt hineinschaut, sie hatten alle die Anfechtungen, alle die Versuchungen in der Tat kennengelernt, die da aufsteigen aus des Menschen Innerem, wenn sich der Mensch den guten göttlich-geistigen Kräften nähert. All die Feinde, die da wirken aus dem untergeordneten geistigen Reiche heraus und die den Menschen abbringen wollen vom Guten, die den Menschen verleiten wollen zum Bösen, die in den Trieben, in den Begierden, in den Leidenschaften, in den Affekten wirken können, die aber namentlich auch wirken können in Spott und Haß und Verachtung und Ironisierung des Guten, all die Mächte, die da aufgerufen werden konnten, die Templer hatten sie kennengelernt. Und sie hatten in vielen, vielen ihnen heiligen Stunden jene inneren Siege errungen, die der Mensch erringen kann, wenn er sehend hindurchgeht durch die Welten, die jenseits der Schwelle der sinnlichen Welt liegen und die überwunden werden müssen, damit der Mensch nach der Überwindung mit gestärkten Kräften in die ihm angemessenen geistigen Welten einziehen kann." (Lit.: GA 171, S 199f)

Daher auch die von Rudolf Steiner genannte goldene Regel jeglicher Geistesschulung:

"Und diese goldene Regel ist: wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten." (Lit.: GA 010, S 65)

Diese Regel muss streng beachtet werden, denn jede geistige Schulung verstärkt notwendig alle Seelenkräfte, auch die negativen, die dadurch von vergleichsweise harmlosen Läßlichkeiten zu sehr bedenklichen Erscheinungen anwachsen können:

"Schon durch die geringe Entwickelung des astralischen Leibes, welche die theosophische Lehre als Elementarlehre bewirkt hat, als sie angefangen hat bekanntzuwerden, traten ganz merkwürdige Erscheinungen auf. Zum Beispiel ein Schüler, der Kassier war, ist mit dem Gelde durchgegangen; Leute, die früher friedfertig waren, wurden streitsüchtig. Das hängt damit zusammen, daß mit dem bißchen okkulter Entwickelung, das aus den theosophischen Begriffen fließt, die schlimmen Seiten des Charakters hervorgedrängt werden, wenn sonst nichts geschieht." (Lit.: GA 098, S 31)

Das zu beachten, ist heute noch viel wichtiger als in alten Zeiten. Das Geheimnis des Bösen, das fünfte der sogenannten sieben Lebensgeheimnisse betrifft ganz besonders unser gegenwärtiges Bewusstseinsseelenzeitalter. Rudolf Steiner hat öfter darauf hingewiesen, dass heute jeder, wirklich jeder Mensch zu den schlimmsten Gräueltaten fähig ist. Und wenn so häufig die Rätselfrage gestellt wird, wie Menschen solch abgrundtief menschenverachtender Scheußlichkeiten, wie sie die Medien so oft berichten, fähig sein können, so ist die Frage eigentlich falsch gestellt. Wichtiger und erhellender wäre die Antwort auf die Frage, worum die große Mehrzahl der Menschen deratige Taten nicht begeht, obwohl sie ihrer fähig wären. Rudolf Steiner spricht es mit erschütternder Klarheit aus:

"Bei allen Menschen liegen im Unterbewußtsein seit dem Beginne der fünften nachatlantischen Periode die bösen Neigungen, die Neigungen zum Bösen. - Ja, gerade darinnen besteht das Eintreten des Menschen in die fünfte nachatlantische Periode, in die neuzeitliche Kulturperiode, daß er in sich aufnimmt die Neigungen zum Bösen. Radikal, aber sehr richtig gesprochen, kann folgendes zum Ausdrucke gebracht werden: Derjenige, der die Schwelle zur geistigen Welt überschreitet, der macht die folgende Erfahrung: Es gibt kein Verbrechen in der Welt, zu dem nicht jeder Mensch in seinem Unterbewußtsein, insofern er ein Angehöriger der fünften nachatlantischen Periode ist, die Neigung hat. Die Neigung hat; ob in dem einen oder in dem anderen Fall die Neigung zum Bösen äußerlich zu einer bösen Handlung führt, das hängt von ganz anderen Verhältnissen ab als von dieser Neigung." (Lit.: GA 185, S 110)

Man kann diese Feststellung gar nicht gewichtig genug nehmen: Jeder Mensch hat heute in sich die Neigung zu grausamsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann, ja die sogar unser Vorstellungsvermögen weit übersteigen mögen! Da sind all die luziferischen Verführungen zur Eitelkeit, zur Ruhmessucht, ja zur Sucht in jeder Form überhaupt, und vor allem ein unbändiger Egoismus, der ohnehin schon immer mehr zur geheimen Religion unserer Zeit wird. Da sind aber vor allem heute auch all die Grausamkeiten, hinter denen letztlich Ahriman steht: die Machtbesessenheit, die Lust zur Gewalt, zur Zerstörung, zum Töten und Quälen – und von hier ist es nur mehr ein kleiner Schritt bis zu den Anfängen der schwarzen Magie. Selbstverständlich gab es viele dieser Erscheinungen auch in früheren Zeiten in nicht gerade geringem Maß, aber doch unter ganz anderen Bedingungen. Der einzelne Mensch war damals im Grunde immer der Verführte, und seine Schuld lag darin, dass er sich mit zu geringer Kraft gegen die Widersachermächte wehrte. Vieles davon wirkt noch nach und viele gegenwärtige Erscheinungen können noch auf diese Weise gedeutet werden. Was aber heute ganz neu hinzukommt, ist, dass das einzelne Individuum nun selbst zur potentiellen Quelle des Bösen werden kann. Im einzelnen Individuum beginnt, noch ganz unterbewusst, der Wille zum Bösen zu erwachen. Wir stehen heute an jener Schwelle, an der die uns vorangegangenen geistigen Wesen standen, die auf früheren Verkörperungen unserer Erde ihre Menschheitsstufe, d.h. ihre Ich-Entwicklung, durchgemacht haben, aber ihr Entwicklungsziel nicht ganz erreichen konnten und dadurch zu Widersachermächten wurden. So sind auf dem alten Mond gewisse luziferische Widersacher entstanden, und noch früher, auf der alten Sonne, bestimmte ahrimanische Mächte. Heute besteht die Gefahr, dass der Mensch selbst zur Widersachermacht wird!

Tatsächlich beginnt jetzt erst die Zeit, wo der Mensch aus eigenem Antrieb wirklich böse werden kann. Das ist der Preis, den wir für die Freiheit notwendig zahlen müssen. Und es ist zugleich ein Anzeichen für das Eingreifen höherer Widersachermächte, durch die die Polarität von Luzifer und Ahriman und damit auch das Böse selbst eine ungeheure Steigerung erfährt - und wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung! Diese Mächte sind die von Rudolf Steiner genannten Asuras. Sura (von "Surya", dem hinduistischen Sonnengott, der etwa dem griechischen Apollon entspricht) bedeutet im Sanskrit "Lichtwesen". Durch die Vorsilbe a- wird die Verneinung bzw. die Bezeichnung des Gegenteils ausgedrückt. Asuras sind somit "Gegner der Lichtwesen". Davon leitet sich auch der in der Apokalypse des Johannes genannte Sonnendämon «Sorat» oder Surat. Die Asuras wachsen in unserer gegenwärtigen Zeit zu gefährlichen Widersachermächten heran, die den Menschen zur schwarzen Magie verführen. Sexuelle Riten spielen dabei eine große Rolle und alle Arten gezielt eingesetzter physischer und seelischer Folter und Gewalt. Diese Kräfte spielten schon, wie Steiner betonte, eine wesentliche Rolle bei der Zerschlagung des Templerordens im 14. Jahrhundert. Die Asuras wirken unmittelbar bis in die Bewusstseinsseele des Menschen und greifen dadurch auch direkt als eine Art von Gegen-Ich das menschliche Ich an:

"Und in der Zeit, die jetzt kommen wird, werden sich hineinschleichen in diese Bewußtseinsseele und damit in das, was man das menschliche Ich nennt - denn das Ich geht auf in der Bewußtseinsseele -, diejenigen geistigen Wesenheiten, die man die Asuras nennt. Die Asuras werden mit einer viel intensiveren Kraft das Böse entwickeln als selbst die satanischen Mächte der atlantischen oder gar die luziferischen Geister der lemurischen Zeit.

Das Böse, das die luziferischen Geister den Menschen zugleich mit der Wohltat der Freiheit brachten, das werden sie alles im Verlaufe der Erdenzeit ganz abstreifen. Dasjenige Böse, das die ahrimanischen Geister gebracht haben, kann abgestreift werden in dem Ablauf der karmischen Gesetzmäßigkeit. Das Böse aber, das die asurischen Mächte bringen, ist nicht auf eine solche Weise zu sühnen. Haben die guten Geister dem Menschen Schmerzen und Leiden, Krankheit und Tod gegeben, damit er sich trotz der Möglichkeit des Bösen aufwärts entwickeln kann, haben die guten Geister die Möglichkeit des Karma gegenüber den ahrimanischen Mächten gegeben, um den Irrtum wieder auszugleichen - gegenüber den asurischen Geistern wird das im Verlaufe des Erdendaseins nicht so leicht sein. Denn diese asurischen Geister werden bewirken, daß das, was von ihnen ergriffen ist - und es ist ja des Menschen tiefstes Innerstes, die Bewußtseinsseele mit dem Ich -, daß das Ich sich vereinigt mit der Sinnlichkeit der Erde. Es wird Stück für Stück aus dem Ich herausgerissen werden, und in demselben Maße, wie sich die asurischen Geister in der Bewußtseinsseele festsetzen, in demselben Maße muß der Mensch auf der Erde zurücklassen Stücke seines Daseins. Das wird unwiederbringlich verloren sein, was den asurischen Mächten verfallen ist. Nicht, daß der ganze Mensch ihnen zu verfallen braucht, aber Stücke werden aus dem Geiste des Menschen herausgeschnitten durch die asurischen Mächte. Diese asurischen Mächte kündigen sich in unserem Zeitalter an durch den Geist, der da waltet und den wir nennen könnten den Geist des bloßen Lebens in der Sinnlichkeit und des Vergessens aller wirklichen geistigen Wesenheiten und geistigen Welten. Man könnte sagen: Heute ist es erst mehr theoretisch, daß die asurischen Mächte den Menschen verführen. Heute gaukeln sie ihm vielfach vor, daß sein Ich ein Ergebnis wäre der bloßen physischen Welt. Heute verführen sie ihn zu einer Art theoretischem Materialismus. Aber sie werden im weiteren Verlauf - und das kündigt sich immer mehr an durch die wüsten Leidenschaften der Sinnlichkeit, die immer mehr und mehr auf die Erde herniedersteigen - dem Menschen den Blick umdunkeln gegenüber den geistigen Wesenheiten und geistigen Mächten. Es wird der Mensch nichts wissen und nichts wissen wollen von einer geistigen Welt. Er wird immer mehr und mehr nicht nur lehren, daß die höchsten sittlichen Ideen des Menschen nur höhere Ausgestaltungen der tierischen Triebe sind, er wird nicht nur lehren, daß das menschliche Denken nur eine Umwandlung dessen ist, was auch das Tier hat, er wird nicht nur lehren, daß der Mensch nicht bloß seiner Gestalt nach mit dem Tier verwandt ist, daß er auch seiner ganzen Wesenheit nach vom Tier abstamme, sondern der Mensch wird mit dieser Anschauung Ernst machen und so leben." (Lit.: GA 107, S 247ff)

Wenn dennoch nicht jeder ein Kapitalverbrechen begeht, so liegt das weniger an den überragenden moralischen Kräften, die wir bereits unserer kleinen irdischen Persönlichkeit einverleibt haben, sondern es ist die weise Führung der unser Schicksals im Verein mit unserem höheren Selbst leitenden Mächte, die uns davor bewahren. Geistig strebende Menschen, selbst Eingeweihte, sind besonders gefährdet, denn ihre raschere Entwicklung bedingt, dass sie sich schneller und öfter bewähren müssen – und dabei auch scheitern können.

Unser gegenwärtiges Bewusstseinsseelenzeitalter hat viele Veränderungen gebracht. Die Menschen sind, verglichen mit früheren Zeiten, viel individueller, aber auch egoistischer geworden, wobei diesbezüglich in den letzten drei oder vier Jahrzehnten ein deutlicher zusätzlicher Entwicklungsschub zu bemerken ist. Dem trägt der Rosenkreuzer-Schulungsweg Rechnung, auf dem auch die anthroposophische Geistesschulung aufbaut. In seinen grundlegenden Schriften und Vorträgen, etwa in der «Theosophie», in «Die Geheimwissenschaft im Umriß» und in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» konnte Steiner diesen Weg zunächst nur ganz allgemein zeichnen. Solche allgemeinen Regeln sind notwendig und können hilfreich sein, reichen aber nicht aus um eine wirkliche geistige Entwicklung anzustoßen. Spezifischere, aber darum auch weniger allgemein verbindliche Schilderungen gab Steiner in «Die Schwelle der geistigen Welt» und in «Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen». In ganz individueller und darum auch besonders konkreter, lebendiger und höchst dramatischer Form wird exemplarisch der Weg einzelner Geistesschüler in Rudolf Steiners Mysteriendramen gezeichnet.

"Keine Seele ist in derselben Lage wie die andere. Daher ist im Grunde genommen auch der Weg in die übersinnlichen Welten hinauf für jede Seele ein individueller, ein solcher, welcher sich je nach der betreffenden Seele beim Ausgangspunkt richtet. Man kann nicht sagen, wenn man im richtigen Sinne sprechen will: so muß nach einem normalen Prinzip unmittelbar jede Seele den Aufstieg in die höheren Welten, die Initiation, durchmachen. Daher das Bedürfnis, nicht nur in kurzen Broschüren oder dergleichen - was ja leichter wäre - Anweisungen zu geben: so und so soll es die Seele machen, um den Glauben zu erwecken, man könne, wenn man solche Regeln befolgt, unter allen Umständen in der gleichen Art wie jede andere Seele in die höheren Welten hinaufsteigen. Daher das Mißliche solcher Dinge. Deshalb namentlich habe ich versucht, in dem Büchelchen «Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen» etwas zu zeigen, was individuell ist und doch einer jeden Seele nützlich sein kann. Aber deshalb ergab sich auch die Notwendigkeit, die Mannigfaltigkeit und die Variabilität des Initiationsweges zu zeigen. Und ohne selbst etwa irgendwie Erklärungen liefern zu wollen über das, was getan worden ist, möchte ich Sie nur darauf hinweisen, wie sich die Notwendigkeiten zu den drei Gestalten ergeben, welche in den drei Mysterienversuchen - «Die Pforte der Einweihung», «Die Prüfung der Seele» und «Der Hüter der Schwelle» - vor Ihre Seele hintreten als Johannes Thomasius, Capesius und Strader. Sie zeigen Ihnen den Weg der ersten Schritte zur Initiation gleichsam in drei verschiedenen Aspekten. Man kann von keinem dieser Wege sagen, daß er besser oder schlechter sei als der Weg des anderen; sondern man muß von jedem dieser Wege sagen, daß er sich ergeben mußte je nach dem Karma der betreffenden Individualitäten. Man kann nur sagen: eine Seele, welche so ist wie Johannes Thomasius, oder welche so ist wie Capesius, muß eben solche Wege gehen, wie sie versucht worden sind, nicht in Theorien, nicht lehrhaft, sondern in Gestalten zu zeigen. Daher das Bedürfnis, solche Gestalten zu zeigen. Und immer notwendiger und notwendiger wird es werden, hinwegzuführen von dem Glauben, daß man mit ein paar Regeln in diesen Dingen auskomme, immer notwendiger wird es sein, gerade auf spirituellem Gebiete von dem Lehrhaften auf das Gestaltete hinzuweisen. Weil die Beziehungen der Welten so mannigfaltige sind, deshalb müssen auch die Wege der einzelnen Individualitäten so mannigfaltige sein. Wenn man aber erst dazu kommt, gewisse Individualitäten oder Wesenheiten der höheren Welten ernsthaft ins Auge zu fassen und deren Anteil an dem Menschen zu prüfen, dann muß man erst recht die Notwendigkeit fühlen, diese Gestalten lebendig zu zeigen, sie in ihrer Mannigfaltigkeit hinzustellen, nicht bloß Definitionen von ihnen zu geben. In unserer Zeit ist es insbesondere für diejenigen, die spirituelle Erkenntnis anstreben, wichtig, solche Gestalten wie Luzifer und Ahriman, denen man auf dem Wege zur Initiation ja immer begegnet, einmal gerade in ihrer Vielartigkeit, in ihrer Variabilität ins Auge zu fassen. Dann wird sich zeigen, wie merkwürdig die Beziehungen und Verkettungen der einen Welt mit der anderen sind." (Lit.: GA 138, S 105f)

Eines aber haben alle geistigen Schulungswege gemeinsam: Sie dienen und dienten niemals der bloßen geistigen Erbauung und der Befriedigung spiritueller Sehnsüchte, auch nicht der weltentrückten Verehrung der göttlichen Welt, sondern sie fordern eine durchgreifende Verwandlung des Menschen, die notwendig auch durch höchst dramatische existentielle Krisen führt, ihn aber letzlich tüchtiger macht, die praktischen Aufgaben des Alltagslebens zu bewältigen. Verwandlung des Menschen bedeutet in diesem Sinn auch immer zugleich Verwandlung der Erde. Geistige Entwicklung ist nichts Theoretisch-Beschauliches, vom Leben Abgesondertes, sondern pure Lebenspraxis - und nur an diesen ihren Früchten im realen irdischen Leben kann sie gemessen werden.

"Es kann keine spirituelle Erkenntnis geben, die nicht einfließen würde in das werktätige Leben." (Lit.: GA 099, S 18)

In vergangenen Zeit blieb die Teilnahme an den Mysterien allerdings wenigen Auserwählten vorbehalten. Sie wirkten im Verborgenen und strenge Geheimhaltung war oberste Pflicht. Man hielt es für gefährlich, das Wissen und die Macht zur Umgestaltung der Erde in die Hände unreifer Menschen zu legen und Geheimnisverrat wurde mit dem Tode bestraft. Das war damals auch gerechtfertigt, denn gerade unreife, wenig entwickelte Menschen verfügten damals noch über gewisse atavistische geistige Fähigkeiten, die, verbunden mit dem Mysterienwissen, großes Unheil anrichten hätten können. Manche halten auch heute noch an diesen Prinzipien fest, aber sie sind nicht mehr zeitgemäß. Die alten, instinktiven Kräfte sind versiegt und die Weisheit der Mysterien vermag heute nur zu nutzen, der sich einen entsprechenden Reifegrad erarbeitet hat. Die Geistesweisheiten können heute nicht mehr verraten werden, selbst wenn man sie ganz öffentlich ausspricht. Wer unreif ist, wird sie nicht verstehen und vielleicht auch belächeln, aber nützen kann er sie nicht. Gefahr entsteht nur dann, wenn eine enge, abgeschlossene Gruppe «geheimes» Wissen pflegt und zu gruppenegoistischen Zwecken missbraucht. Die heutigen Mysterien müssen mitten im Leben und im vollen Licht der Öffentlichkeit stehen und sie bedürfen auch keines abgesonderten, verborgenen Tempels mehr. Wie in schon in Goethes Märchen angedeutet, ist der verborgene Felsentempel zu dem grundsätzlich allen zugänglichen Sonnentempel aufgestiegen. Er ist an keinen besonderen Ort gebunden, sondern überall dort zu finden, wo sich eine frei gebildete, aber karmisch verbundene Gemeinschaft von Menschen zu einem gemeinsamen geistigen Streben zusammenfindet. Diese Gesinnung lebt auch in dem Rosenkreuzer-Bund, der in «Der Hüter der Schwelle» gezeigt wird. Zwölf noch ungeweihte Personen, die Wiederverkörperungen der 12 Bauern und Bäuerinnen aus «Die Prüfung der Seele» sind, sollen daher ihre Kräfte mit denen des von Hilarius Gottgetreu geleiteten Mystenbundes vereinen. Hilarius ist dabei als die Reinkarnation des Großmeisters des mystischen Ritterbundes aus «Die Prüfung der Seele» gedacht.

Dieses Prinzip, die Mysterien mitten im Leben zu verwirklichen, wird in Steiners Dramen nicht nur dargestellt, sondern es lebt in ihnen als wirksame impulsierende Kraft. Abstrakte Schemata des Erkenntnispfades wird man darin vergebens suchen. Die vier Mysteriendramen zeigen nicht nur exemplarisch und konkret den Schulungsweg, sondern sie sind, vor allem wenn man sich tätig eigenständig gestaltend in sie einlebt, selbst ein für jeden gangbarer, zeitgemäßer und lebenspraktischer menschlicher Schulungsweg, der den individuellen Bedürfnissen und Erfordernissen ausreichend Freiraum lässt und doch zugleich eine verlässliche geistige Orientierungshilfe bietet. Die Dramen sind auch in diesem Sinn nichts fertig Vollendetes, was Steiner ja immer wieder betont hat, sondern sie laden dazu ein, durch die Darsteller und das Publikum im unmittelbaren Darstellen und im aktiven Miterleben des Dargestellten frei und individuell, aber keineswegs willkürlich, immer wieder neu fortgestaltet zu werden und dadurch zugleich an der eigenen Entwicklung zu arbeiten. Der Text selbst, wenn man sich unbefangen und ohne klügelnden Verstand auf ihn einlässt, liefert die dazu nötige, ganz konkrete Inspirationsquelle, die verhindert, dass man sich dabei in wesenlosen Phantasmen verliert.

Der künstlerische Entstehungsprozess der Mysteriendramen

"Die Erscheinung wurde immer heller, und die sieben Farben gingen allmählich in schwaches Gold und schwaches Violett über. Und immer heller leuchtete das Gebilde, und immer mächtiger wurde das Licht, bis es sich in den hellsten Himmelskörper, die Sonne, verwandelte. In der Mitte dieser Sonne erschien - in der jeweiligen Sprache des betreffenden Volkes - der Name des Christus. Für den Menschen, der diese Feier mitgemacht hatte, galt das bedeutsame Wort: Er hat die Sonne um Mitternacht gesehen. Das heißt, ein Sinnbild des geistigen Schauens ist ihm erschienen." (Lit.: GA 97) [weiter ...]
Die Pforte der Einweihung, 2. Bild
Die Pforte der Einweihung, 2. Bild

Die Darsteller der Mysteriendramen waren von Rudolf Steiner selbst aufgefordert worden, sich zu beteiligen. Nur vier waren in der Rezitationskunst ausgebildet und überhaupt nur drei von ihnen waren schon als Schauspieler tätig gewesen. Alle anderen waren Laienspieler im besten Sinn des Wortes, die sonst im Leben in den verschiedensten Berufen standen und in nur wenigen Wochen lernen mussten, diese auch für Theaterprofis schweren Rollen zu bewältigen. Erschwerend kam hinzu, dass Rudolf Steiner den Text seiner Dramen vielfach Bild für Bild erst unmittelbar vor Probenbeginn niederzuschreiben begonnen hatte. „Es wäre ja Unsinn“ meinte er, „ein Drama zu schreiben, bevor es sich um eine Aufführung handelt.“ Und so schrieb er spät in der Nacht noch die Texte, die jeweils am nächsten Tag geprobt werden sollten. So ähnlich muss es wohl auch Shakespeare mit seiner Theatertruppe gemacht haben. Rudolf Steiner erweist sich hier als genialer Theaterpraktiker. Viel Schlaf konnte Steiner zu dieser Zeit nicht finden und oft blieb sein Bett ganz unberührt, doch war er stets in einer frischen, beschwingten Stimmung. Alexander Strakosch schrieb dazu:

„Rudolf Steiners Tage und – wie erwähnt – auch die Nächte waren von intensiver Tätigkeit erfüllt, doch war es nicht jenes beängstigende Übermaß an Arbeit und Sorge, wie in den letzten Zeiten, sondern es herrschte um ihn die harmonische Beschwingtheit, welche das künstlerische Schaffen verleiht, wenn es sich wirkend entfalten kann. Er wurde nicht von außen gedrängt durch Menschen oder Verhältnisse oder bedrückt durch Sorgen. Alle waren bestrebt, seine Instruktionen auszuführen, seinen Anregungen zu folgen.“ (Lit.: Strakosch)

Natürlich musste Rudolf Steiner, bevor er die Dramen niederschreiben konnte, ein Grundkonzept entwerfen, dem die Handlung folgen sollte, aber der eigentliche Text entstand aus den unmittelbaren Erfahrungen der Probenarbeit. Anfangs mussten sich die Darsteller die Texte, die fein säuberlich in gut leserlicher Handschrift mit Bleistift geschrieben waren, noch selbst abschreiben. Maximilian Gümbel-Seiling schreibt in seinen Erinnerungen an die Probenarbeiten zu den Münchner Mysterienspielen:

„Am Vormittag erschien Dr. Steiner und las uns jeweils aus seinem Heft das neu entstandene Bild vor. Manchmal schrieben wir uns aus diesem Heft selbst unsere Rollen ab. Die Bleistiftschrift war deutlich und klar. Bald unterzog sich Dr. Elisabeth Vreede der Mühe, die fertigen Szenen für uns auf der Schreibmaschine abzuschreiben. Er las mit zurückgehaltenem Pathos, aber deutlicher Charakterisierung. Während der Proben gab er sparsame Winke. Selten machte er es uns auf der Bühne vor. Dann aber bekam man den Eindruck einer konkreten Persönlichkeit und bemerkte, daß es ihm Freude machte, seinen Gestalten Haltung, Ton, Gebärde zu verleihen.“ (Lit.: Seiling)

Johannes und Maria (Die Pforte der Einweihung, 1. Bild)
Johannes und Maria (Die Pforte der Einweihung, 1. Bild)

Später wurde das Ganze noch professioneller organisiert, indem ein Druckerlehrling pünktlich um 5 Uhr morgens Rudolf Steiners Vorlage abholte und die fertigen, praktisch noch feuchten Druckbögen rechtzeitig zum Probenbeginn ablieferte. Wie dann die Probenarbeit ablief, davon hat Alice Fels in ihren Erinnerungen von den Proben zu „Der Seelen Erwachen“ ein lebendiges Bild gezeichnet:

"Um 10 Uhr vormittags trafen alle Teilnehmer im Probenraum ein. Zunächst las Rudolf Steiner mit starker Intonierung und dezidiertem Betonen des Rhythmus das in der Nacht Neuerstandene vor. Dann verteilte er den noch druckfeuchten Text an die Träger der verschiedenen Rollen und ließ ihn so oft lesen und spielen, bis sich die verschiedenartigen Menschen aufeinander abgestimmt hatten. Er leitete die Arbeit derart, daß er niemals die Spieler unterbrach und „verbesserte“, sondern dieselbe Szene wieder und wieder vorsprach und vorspielte mit allen mimischen Nuancen und so oft spielen ließ, bis er mit den Schauspielern zufrieden war. Wesentlich schien ihm dabei, die Stimmung, die Atmosphäre eines Bildes zu übermitteln – gewaltig wirkte es, wie er die beiden Bilder im Geistgebiet vorlas. Er stellte sich während des Lesens auf einen Stuhl, und im schwingenden Rhythmus der Verse fühlte sich der Zuhörer mitgetragen in die Weltenweiten. Die Erde wurde einem gleichsam sachte unter den Füßen weggezogen, während die Jamben mit ungeheurer Wucht, stark beschwingt und dabei in strahlender Helle dahinströmten." (Lit.: Fels)

Ähnliches berichtet auch Oskar Schmiedel von den Proben zur „Pforte der Einweihung“:

"Einen ganz besonders starken Eindruck machte es, wenn Dr. Steiner einzelne Rollen vorspielte; er tat dies mit einer schauspielerischen Kunst und Kraft, die es den Spielern schwer machte, in ihrer eigenen Darstellung dem einigermaßen nachzukommen. Ganz unvergeßlich ist mir z. B., wie Rudolf Steiner die Szene vorspielte, in der Strader vor dem von Thomasius gemalten Bild des Capesius steht. Mit einer Eindringlichkeit spielte Rudolf Steiner, daß wir alle, die wir dies miterleben durften, erschüttert waren und eine tiefe Stille danach längere Zeit im Saale herrschte." (Lit.: Schmiedel)

Dass es durch den schrittweisen Entstehungsprozess der Dramen von Probentag zu Probentag auch kein vorgefertigtes Regiekonzept geben konnte ist klar. Wenn schon das Drama selbst von Tag zu Tag entstand, so musste noch mehr die Regie selbst direkt aus dem lebendigen Probengeschehen herauswachsen. Die künstlerische Inspiration für das Stück selbst und für seine dramatische Umsetzung auf der Bühne fließt hier aus einer Quelle, die durch das gemeinsame Tun und Empfinden während der Proben geöffnet wird. In diesem Sinne sind die Akteure, die Schauspieler, die Bühnenmaler und sonstigen Helfer durchaus aktiv schöpferisch mitbeteiligt am Zustandekommen des Werkes, das dann schließlich über die Bühne gebracht wurde. Durch eine tätige Gemeinschaft von Menschen können sich immer höhere geistige Kräfte offenbaren, als das durch einen Einzelnen möglich ist – selbst wenn er ein hoher Eingeweihter ist. Das mindert keineswegs die Leistung Rudolf Steiners, sondern gab ihm im Gegenteil erst die Möglichkeit, seine Fähigkeiten voll auszuschöpfen.

Die Pforte der Einweihung (11. Bild), Goetheanum 1995, Foto: Hansruedi Clerc
Die Pforte der Einweihung (11. Bild), Goetheanum 1995, Foto: Hansruedi Clerc

Die verschlungenen Fäden des Schicksals

"Der Mensch, dessen geistiges Auge geöffnet ist, erlebt, daß alle Materie durchsichtig wird, er sieht durch die Erde hindurch, er sieht in Wirklichkeit die Sonne um Mitternacht, er besiegt die Materie. In umgekehrter Farbe, in violett-rötlicher Farbe erscheint ihm um Mitternacht die Sonne. Was in dem großen Weltsinnbilde kosmisch erscheint, ist für den Christen, ins Menschliche übersetzt, die Erscheinung des Christus Jesus auf Erden. Wir werden alle die Sonne um Mitternacht sehen." (Lit.: GA 97) [zurück]
Foto von der Neuinszenierung von Rudolf Steiners Mysteriendramen an der Goetheanum-Bühne 2010. Foto: Jochen Quast
Die Pforte der Einweihung (7. Bild). Foto: Jochen Quast 2010

Erstmals in der dramatischen Dichtung überhaupt hat Rudolf Steiner in seinen Dramen die wahren Triebkräfte des Schicksalsgeschehens offen und ungeschminkt auf die Bühne gestellt. Wie sich der Charakter des Menschen gegenüber der Unausweichlichkeit des Schicksals bewährt, war zwar schon immer der Hauptnerv der tragischen Dichtung, doch blieben die eigentlichen Ursachen letztlich rätselhaft. Reinkarnation (die Wiedergeburt zu wiederholten Erdenleben) und Karma (Schicksal) sind zentrale Gedanken der Anthroposophie. Rudolf Steiner hat die Hintergründe der tragischen Schicksalsverwicklungen auf ihren wahren Ursprung, nämlich auf karmische Verwicklungen in früheren Erdenleben, zurückgeführt und dramatisch zur Darstellung gebracht. Darin liegt ein wesentlicher und notwendiger Impuls für den Fortschritt der dramatischen Kunst, wenn es auch noch länger dauern mag, bis er in weiteren Kreisen aufgegriffen wird.

Im 3. Bild der Pforte der Einweihung heißt es:

Es formt sich hier in diesem Kreise
Ein Knoten aus den Fäden,
Die Karma spinnt im Weltenwerden.
O Freundin, deine Leiden
Sind Glieder eines Schicksalsknotens,
In dem sich Göttertat verschlingt mit Menschenleben.

Drei weitere Dramen konnte Steiner noch an Die Pforte der Einweihung anschließen, ein fünftes war schon in groben Zügen umrissen, doch verhinderte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges die weitere Ausführung. Vermutlich wollte Rudolf Steiner insgesamt sieben Mysteriendramen schreiben, die auch immer wieder Rückblicke in frühere Inkarnationen der handelnden Personen gegeben hätten, wodurch schließlich ein umfassendes Panorama der geistigen Entwicklung der Menschheit der nachatlantischen Zeit entstanden wäre.

Link: Wiederholte Erdenleben als Schlüssel des Menschenrätsels (Hamburg, 9. Dezember 1905; PDF)

Die Pforte der Einweihung (7. Bild), Goetheanum 1995, Foto: Hansruedi Clerc
Die Pforte der Einweihung (7. Bild), Goetheanum 1995, Foto: Hansruedi Clerc