Anthroposophie
Die von Rudolf Steiner begründete Anthroposophie (wörtlich Die Weisheit vom Menschen) ist eine auf eigenständige geistigen Erfahrungen gegründete moderne spirituelle Weltanschauung, die ein erhellendes und das Leben vielfältig befruchtendes Licht auf die geistigen Hintergründe unseres Daseins werfen will. Nachdem die moderne Physik seit dem frühen 20. Jahrhundert das klassische materialistische Weltbild endgültig überwunden hat und gedanklich weit in sinnlich nicht mehr vorstellbare Bereiche vorgestoßen ist, ist der Ruf nach einer nicht auf Spekulation, sondern auf unmittelbare spirituelle Erfahrung gegründeten Wissenschaft vom Geistigen umso drängender. Und so wollte Steiner die Anthroposophie verstanden haben – als eine auf besonnene selbstbewusste geistige Erfahrung gegründete, exakte, gedanklich klar fassbare wissenschaftliche Erforschung des Geistigen, d.h. als Geisteswissenschaft im eigentlichsten Sinne des Wortes, die ergänzend und erweiternd zu der gegenwärtigen Naturwissenschaft hinzutritt:
"Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewußtsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen." (Lit.: GA 35, S 66)
Wesen und Methode der Anthroposophie hat Rudolf Steiner in 28 Schriften und über 6000 Vorträgen, die heute in den mehr als 350 Bänden der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) bereits weitgehend veröffentlicht sind, umfassend dargestellt, was sich in einen knappen Satz gedrängt so zusammenfassen läßt:
"Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte." (Lit.: GA 26, LS 1)
Anthroposophie ist ein Weg zur spirituellen Welterkenntnis durch geistige Selbsterkenntnis. Durch unsere Seele und durch unseren individuellen Geist leben wir ebenso in einer uns umgebenden seelischen und geistigen Welt, wie wir durch unseren Leib in der physischen Welt leben. Und so wie wir durch unsere Sinne die äußere Natur erfassen, so sind in unserem Seelenleben und unserer bewussten Geistestätigkeit bereits die geistigen Organe veranlagt, durch die wir erkennend in die durch das äußere Dasein verhüllte seelische und geistige Welt vordringen können. Dazu müssen die in uns veranlagten Geistorgane allerdings erst derart erweckt werden, dass sie ihre Befangenheit in unserem Eigensein überwinden und sich für die geistige Außenwelt öffnen. So wie wir die sinnliche Welt durch das Auge nur dadurch sehen können, dass es sich selbst ganz durchlässig macht und nicht als störende Trübung die Wahrnehmung behindert, so ist es in einem höheren Sinn auch mit unseren geistigen Wahrnehmungsorganen. Dazu ist eine konsequente, auf Konzentrations- und Meditationsübungen beruhende geistige Schulung nötig. Für diesen „Einweihungsweg“ hat Rudolf Steiner reiche Anregungen gegeben. Gelingt es, willentlich die Aufmerksamkeit zeitweilig von der äußeren Sinneswelt und der bloßen inneren Selbstwahrnehmung abzulenken und ganz auf die feinen, normalerweise kaum bewussten Untertöne unseres Seelenlebens zu richten, öffnet sich, unter völliger Beibehaltung des klaren, besonnen Denkens, nach und nach der Blick auf die geistige Welt, die uns umgibt. Methodisch geht Anthroposophie dabei über die überlieferten Methoden mystischer Versenkung oder ekstatischer Trance hinaus, insofern durch diese die geistige Welt nur in einem herabgedämpften, traumartigen Bewusstsein erfahren werden konnte.
Es enthüllen sich auf diesem Weg nicht nur die geistigen Hintergründe des äußeren Daseins, sondern es werden derart auch Weltbereiche der Erfahrung zugänglich, die keine unmittelbare Entsprechung in der sinnlichen Welt haben. Insbesondere wird dadurch auch das Schicksal des Menschen nach dem Tod, wenn er seine leibliche Hülle abgelegt hat, offenbar. Was als unser Seelisches und Geistiges auf Erden in dieser Hülle war, lebt nach dem Tod in verwandelter Form in der geistigen Welt weiter und schöpft aus dieser starke Kräfte, mit denen es nach kürzerer oder längerer Zeit zu einem neuen Erdenleben herabsteigt. Die vor allem in den fernöstlichen Traditionen verwurzelte Lehre von Reinkarnation und Karma, von Schicksal und Wiedergeburt, wird durch die Erkenntnisse der Anthroposophie bestätigt, aber nicht im Sinne eines fatalistischen Schicksalsverhängnisses aufgefasst, sondern als Chance, die eigene geistige Individualität durch wiederholte Erdenleben immer weiter zu entwickeln, wie es früher schon Gotthold Ephraim Lessing in seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“ angedeutet hatte und auch den wesentlichen Hintergrund von Steiners Mysteriendramen bildet. Dem irdischen Leben und der damit verbundenen Verantwortung, die hier und nur hier erübt werden kann, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Anthroposophie steht dadurch in vollem Einklang mit einem recht verstandenen Christentum und dem Erdenleben des Jesus Christus und seinem Tod am Kreuz auf Golgatha misst Rudolf Steiner höchste Bedeutung für die Menschheitsentwicklung zu.

Die Mysteriendramen sind aus dem künstlerischen Impuls hervorgegangen, den Rudolf Steiner mit dem 1907 veranstalteten Münchner Kongress der Theosophischen Gesellschaft als ein ganz neues Element in die damals noch Theosophische Gesellschaft, aus der dann 1913 die Anthroposophische Gesellschaft herausgetreten ist, eingebracht hat. Bis dahin waren die theosophisch-anthroposophischen Lehren nur in begrifflich-gedanklicher Form gegeben worden und diese war bei den Theosophen vielfach entweder sehr schematisch und abstrakt, wie etwa in Alfred Percy Sinnetts „Geheimbuddhismus“ oder mangelte an voller, reiner Gedankenklarheit, was durchaus auch für die Schriften und Vorträge von H.P. Blavatsky und Annie Besant gilt. Abgesehen davon, dass beiden, Blavatsky und Besant, das tiefere Verständnis für den Christus-Impuls fehlt, kann man ihren Werken, namentlich denen der Blavatsky, bei aller Einseitigkeit eine gewisse geistige Tiefe nicht absprechen, die Rudolf Steiner auch jederzeit gewürdigt hat, aber die Darstellung ist selten so gedankenklar, dass sie den geistigen Anforderungen unseres Bewusstseinsseelenzeitalters voll genügen können.
Hier ist schon der neue Wind spürbar, der durch Rudolf Steiner in die theosophische Bewegung hineingekommen ist. Vorbereitet durch seine philosophischen und goetheanistischen Studien, wie er sie schon in seinen „Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften“, in den „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, in „Wahrheit und Wissenschaft“ und dann ganz besonders in seiner „Philosophie der Freiheit“ niedergelegt hat, konnte Steiner das intellektuelle Denken unseres Zeitalters auf jene bis dahin noch nicht erreichte Höhe heben, durch die sich auch das Geistige in vollkommen gedankenklaren Begriffen und Ideen denken lässt. Er hat damit bewiesen, dass unser Intellekt genauso befähigt ist, geistige Wahrheiten zu erfassen, wie er sonst heute nur die äußeren Naturwahrheiten begreift. Freilich geht das nur, wenn man unbefangen an die mitgeteilten geistigen Wahrheiten herantritt und sich nicht durch die gängigen Vorurteile unserer Zeit blenden lässt. Geisteswissenschaft im Sinne Steiners fordert keinen blinden Glauben, der wäre sogar schädlich, wohl aber den guten Willen, mit einer ursprünglichen und unverbildeten Denkkraft an die Mitteilungen aus der geistigen Welt heranzutreten. Und dazu ist viel guter Wille nötig, denn die Vorurteile sitzen tief, und Steiners Schriften sind nicht leicht zu studieren, wie jeder weiß, der sich einmal damit beschäftigt hat. Das ist aber durchaus gewollt und notwendig. Man kann sie nicht einfach lesen, sondern jeder einzelne Satz lädt gewissermaßen zu einem meditativen Verweilen ein und ein umfassenderes Verständnis wird man sich nur erwerben, wenn man sie viele, viele Male in dieser Art studiert hat. Der Weg der Geisteswissenschaft ist nicht dazu geeignet, geistige Bedürfnisse rasch und bequem zu erfüllen, sondern er ist langsam und mühevoll – aber dafür auch äußerst trittsicher. Man wird dabei nicht leicht in wertlose Phantastereien verfallen, denn unser Intellekt, unser waches Ich ist stets zum unparteiischen Richter über die mitgeteilten geistigen Inhalte aufgerufen.
Um geistige Wahrheiten erfassen zu können, muss allerdings das Denken lebendig beweglich gestaltet werden und Steiners Schriften und Vorträge sind im Grunde reine Gedankenkunstwerke. Sie sind nicht aus einem abstrakt ableitenden Denken, das tote Begriffe zu logischen Schlüssen kombiniert, sondern aus dem lebendigen geistigen Miterleben des Denkprozesses herausgewachsen. Dennoch folgen namentlich die Schriften Steiners einer streng systematischen logischen Ordnung, aber diese ist nicht der Ausgangspunkt, sondern das Endergebnis des lebendigen Gedankenbildungsprozesses. Die für unsere Zeit so nötige Wiedervereinigung von Wissenschaft, Kunst und Spiritualität ist darin schon in klaren Konturen angedeutet.
Aus seinen geistigen Erkenntnissen konnte Rudolf Steiner durch die Anthroposophie fruchtbare Anregungen für nahezu alle Lebensbereiche gegeben, die auch weltweit aufgegriffen und vielfach weiterentwickelt wurden. So etwa für die Waldorfpädagogik auf Grundlage einer spirituellen Menschenkunde, für die anthroposophisch erweiterte Medizin, für die Betreuung seelenpflegebedürftiger Menschen, für die biologisch-dynamische Landwirtschaft, für alle Bereiche der Kunst, von der Architektur, über die Malerei bis hin zur Sprachgestaltung und der von ihm ganz neu entwickelten Eurythmie, und insbesondere auch für das soziale politische Leben durch die von ihm entwickelten Gedanken zur Dreigliederung des sozialen Organismus.
Die auf die freie geistige Individualität des Menschen gegründete Anthroposophie stand notwendig in strengem Gegensatz zu dem völkischen Gedankengut der Nationalsozialisten. Ab 1933 war die Anthroposophie daher in Deutschland und seit 1938 auch in Österreich verboten und konnte erst nach 1945 hier wieder öffentlich in Erscheinung treten.
Was Rudolf Steiner durch seine Schriften und Vorträge zur Anthroposophie an geistigen Erkenntnissen gegeben hat, lebt auf ganz andere, eigenständige Weise, und in gewissem Sinn sogar, wie er selbst sagt, lebensvoller und unmittelbarer, in der künstlerischen Ausgestaltung der Mysteriendramen. Sie sind direkt aus echtem künstlerischen Schaffen hervorgegangen und keineswegs ein bloß bildhaft inszenierter Abklatsch zuvor gedanklich formulierter anthroposophischer Lehren. Nach der Uraufführung seines ersten Mysteriendramas sagte Steiner in einem Vortrag in Berlin am 31. Oktober 1910:
„Es ist von mir schon da und dort seit der Münchner Aufführung dieses Rosenkreuzermysteriums ausgesprochen worden, was ja wahr ist, daß über viele, viele Dinge, die es auf dem Gebiete des Esoterischen, des Okkulten gibt, nicht mehr von mir gesprochen zu werden brauchte, daß von mir keine Vorträge mehr nötig wären, wenn alles das auf die Seelen der lieben Freunde und mancher anderer Menschen wirken würde, unmittelbar aus dem Rosenkreuzermysterium heraus, was in demselben liegt. Und in Worten, wie man sie in den Vorträgen in der Regel gebraucht, hätte ich vieles, vieles zu reden, nicht nur Tage, Wochen, Monate, sondern jahrelang, wenn ich das umschreiben wollte, was durch das Rosenkreuzermysterium gesagt sein sollte und gesagt sein kann. Alle die Dinge, die Sie - und gegenüber okkulten Dingen ist es gewiß berechtigt, so zu sprechen - in einer Art von stammelnder Sprache finden in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», was da enthalten ist als eine Beschreibung des Weges hinauf in die höheren Welten, das alles verbunden mit dem, was in der «Geheimwissenschaft im Umriß» in einer anderen Form gesagt werden durfte, ist im Grunde genommen viel intensiver, lebensrealer und wirklicher, weil viel individueller, in dem Rosenkreuzermysterium zu finden. In einer solchen Schrift wie zum Beispiel «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» kann man das, was über die menschliche Entwickelung gesagt werden soll, doch nur so bringen, daß es gewissermaßen anwendbar ist auf jede menschliche Individualität, die daran geht, in gewisser Weise die Schritte hinaufzulenken in die höheren Welten, auf jede menschliche Individualität. Dadurch gewinnt eine derartige Schrift bei aller Konkretheit dennoch einen abstrakten Charakter, man möchte sagen, einen halb theoretischen Charakter. Denn das eine müssen wir festhalten: Entwickelung ist nicht Entwickelung überhaupt! - Es gibt keine Entwickelung an sich, keine Entwickelung im allgemeinen; es gibt nur die Entwickelung des einen oder des anderen oder des dritten, des vierten oder des tausendsten Menschen. Und so viele Menschen in der Welt sind, so viele Entwickelungsprozesse muß es geben. Daher muß die wahrste Schilderung des okkulten Erkenntnisweges im allgemeinen einen Charakter haben, der in einer gewissen Weise sich nicht deckt mit einer individuellen Entwickelung. Will man Entwickelung, so wie sie sich erschaut in der geistigen Welt, wirklich hinstellen, so kann das nur geschehen, wenn man die Entwickelung eines einzelnen Menschen gestaltet, wenn man in die Individualität umsetzt, was für alle Menschen wahr ist. Liegt in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gewissermaßen der Anfang des Entwickelungsgeheimnisses eines jeden Menschen, so liegt in dem Rosenkreuzermysterium das Entwickelungsgeheimnis eines einzelnen Menschen, des Johannes Thomasius.“ (Lit.: GA 125, S 125f)
Beide, anthroposophische Lehre und künstlerisches Schaffen, schöpfen bei Rudolf Steiner aus der selben Quelle, nämlich dem unmittelbaren, bewussten Erleben der geistigen Wirklichkeit, doch wird dieses Erleben ganz unterschiedlich zu Darstellung gebracht. Was Rudolf Steiner als anthroposophische Lehre gegeben hat, ist ein Gedankenkunstwerk, dem aber, entsprechend der Wesensart des Denkens, notwendig ein allgemeiner, bis zu einem gewissen Grad abstrakter Charakter innewohnt. Was Rudolf Steiner in seinen Mysteriendramen künstlerisch auf die Bühne gestellt hat, sind lebensvolle, geistrealistische Einzelschicksale, die aber eben deshalb auch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können. Sie stehen deshalb keineswegs in Widerspruch zu den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Geistesschulung, sondern sind die einzigartige unwiederholbare individuelle Ausformung derselben. Um die handelnden Personen echt und überzeugend zu charakterisieren, durfte Rudolf Steiner nicht den Umweg über das Gedankenelement wählen, sondern sie mussten unmittelbar aus dem schöpferischen Wollen hervortreten - in einer Form, die auch Steiner selbst niemals vorhersehen konnte und die ihn selbst immer wieder aufs Neue überraschte. Das ist ein Grundzug echten künstlerischen Schaffens, alles andere wäre völlig unkünstlerische, bloß ausgedachte abstrakte Konstruktion. Nachher, wenn das Werk einmal vollendet ist, kann man natürlich die ihm innenwohnenden Gesetzmäßigkeiten auch gedanklich fassen und beschreiben. Darauf hat Rudolf Steiner sehr nachdrücklich hingewiesen:
"Ich führte aus, als ich die Dichtung des «Faust» interpretieren sollte, daß der Dichter beim Niederschreiben nicht notwendig unmittelbar alle Dinge selber gewußt, selber empfunden hat in Worten, die dann später darin gefunden worden sind. Ich kann die Versicherung geben, daß nichts von dem, was ich hinterher an dieses Mysterium anknüpfen werde, und von dem ich doch weiß, daß es darin ist, mir bewußt war, als die einzelnen Bilder gestaltet wurden. Die Bilder wuchsen so aus sich heraus wie die Blätter einer Pflanze. Man kann gar nicht solch eine Gestalt vorher dadurch hervorbringen, daß man zuerst die Idee hat und diese dann in die äußere Gestalt umsetzt. Es war mir immer recht interessant, wenn so Bild für Bild geworden ist, und Freunde, welche die einzelnen Szenen kennengelernt haben, sagten, es sei merkwürdig, daß es doch immer anders komme, als man es sich vorgestellt habe." (Lit.: GA 125, S 103)

Wahre Kunst spricht durch sich selbst
Wahre Kunst spricht durch sich selbst, sie bedarf keiner Auslegung, keiner Interpretation. Sie will im unmittelbaren sinnlichen Erleben erfasst werden. Aber dieses sinnliche Erleben ist zugleich ein übersinnliches, ganz in dem Sinne, wie Goethe in seiner Farbenlehre von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben spricht. Erst wo das innere geistige Licht dem äußeren sinnlichen Licht begegnet, beginnt die bewusste Wahrnehmung. Das gilt schon für jede alltägliche Wahrnehmung und natürlich auch für jede Sinnessphäre, nicht nur für das Sehen, sondern ebenso für das Hören, Riechen, Schmecken usw. Das sinnliche Licht lockt das geistige Licht in der Seele hervor, es ist nur eine Anregung, ein Wegweiser, der über sich selbst hinaus deutet. Die Realität der Farbe - wie jeder anderen erlebten Sinnesqualität - liegt in der Seelenwelt. Wenn die Seele das äußere Licht nicht ergreift, ist der Mensch blind - trotz gesunder Sinne. Die Kunst erfordert noch ein viel feineres Wahrnehmungsvermögen. Und so bleiben viele, die zwar sehend sind, doch stumpf und blind und taub für das wahre Wesen eines Kunstwerks.
Etwas davon empfindet auch Doktor Strader im ersten Mysterendrama Steiners, als er zutiefst erschüttert vor dem Portät des Capesius steht, das Johannes Thomasius geschaffen hat:
Doch wenn zu eurem Bilde jetzt
Mein Blick sich wendet, Vergess' ich alles, was den Denker lockt. Es leuchtet meines Freundes Seelenkraft Aus diesen Augen, die gemalt doch sind. Es lebt des Forschers Sinnigkeit Auf dieser Stirn; Und seiner Worte edle Wärme, Sie strahlt aus allen Farbentönen, Durch welche euer Pinsel Dies Rätsel löste. O diese Farben, sie sind flächenhaft Und sind es nicht, Es ist, als ob sie sichtbar seien nur, Um sich unsichtbar mir zu machen. Und diese Formen, Die als der Farbe Werk erscheinen, Sie sprechen von dem Geistesweben, Von vielem sprechen sie, Was sie nicht selber sind. Wo ist, wovon sie sprechen? Nicht auf der Leinwand kann es sein; Denn da sind geistentblößte Farben. So ist es in Capesius? Warum kann ich es nicht an ihm erschauen? Thomasius, ihr habt gemalt, Daß dies Gemalte sich durch sich Im Augenblick vernichtet, Sobald der Blick es fassen will. Ich kann es nicht begreifen, Wozu dies Bild mich treibt. Was will von mir ergriffen sein? Was soll ich suchen? Die Leinwand, ich möchte sie durchstoßen, Zu finden, was ich suchen soll Wo fass' ich, was dies Bild In meine Seele strahlt? Ich muß es haben. O, ich betörter Mann. Es ist, als ob Gespenster mich berückten! Ein unsichtbar Gespenst; Und meine Ohnmacht, Die kann es nicht erblicken. Thomasius, ihr malt Gespenster, Ihr zaubert sie in eure Bilder; Sie locken, sie zu suchen, Und lassen sich nicht finden. ---- O, wie sind eure Bilder grausam! Die Pforte der Einweihung, 8. Bild
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Straders Denken versagt an dieser Stelle. Mit dem abstrakten Verstand lässt sich das Kunstwerk nicht erfassen.
In den theosophischen Kreisen gab es oft die Unsitte, Kunstwerke schematisch nach den theosophischen Lehren auszulegen, etwa indem man in den einzelnen handelnden Personen den Wesensgliedern des Menschen zuordnete. Solch stroherne Abstraktionen schienen Rudolf Steiner völlig verfehlt:
„Wenn einen damals jemand gefragt hat: Welche Person ist Atma, welche ist Buddhi, welche Manas? - Es wäre eine gräßliche Kunst, eine fürchterliche Kunst, wenn man die Darstellung so interpretieren müßte: Diese Gestalt ist eine Personifikation von Manas. - Es gibt theosophische Unarten, die sich bemühen, alles in dieser Richtung auszulegen. Von dem Kunstwerk, das sich so interpretieren lassen müßte, könnte man sagen: Armes Kunstwerk! - Gegenüber Shakespeares Dramen jedenfalls wäre dies grundfalsch und lächerlich.
Solche Dinge sind Kinderkrankheiten der theosophischen Entwickelung. Man wird sie sich schon abgewöhnen. Aber es ist doch notwendig, daß auf diese Dinge auch einmal aufmerksam gemacht wird. Es könnte sogar vorkommen, daß sich jemand daran macht, die neun Glieder der menschlichen Natur in der Neunten Symphonie Beethovens aufzusuchen.“ (Lit.: GA 125, S 113)
Am leichtesten gelingt das unmittelbare künstlerische Erleben bei der Musik, die man noch am ehesten im unmittelbaren Hören genießt und direkt zum Gemüt sprechen lässt, ohne gleich nach einer intellektuellen Deutung zu verlangen – obwohl natürlich auch über musikalische Kompositionen ungezählte „gescheite“ Abhandlungen geschrieben werden. All das führt aber schon aus dem Wesen der Kunst heraus.
In der dramatischen Kunst ist es noch schwieriger, sich voll und ganz auf das unmittelbare Erleben einzulassen, denn hier ist ein gewisser gedanklicher Inhalt schon Teil des Werkes selbst – und dieser Teil wird heute zumeist als das Wesentliche, als der Kern der Sache selbst genommen. Man irrt, wenn man meint, in der gedanklichen Nacherzählung des Inhalts und den daran angeknüpften Deutungen schon irgendetwas Wesentliches zu haben. Der gedanklich fassbare Inhalt, das „Was“ des dramatischen Geschehens, ist nur die Spitze des Eisberges und eigentlich nur von untergeordneter Bedeutung. Hier gilt das schöne Wort aus Goethes Faust: „Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.“ Viel wichtiger ist die künstlerische Form, der Rhythmus und die Melodie der Sprache, der Klang, die Färbung und die Abfolge der Laute. „Der Stoff“, so sagt Schiller, „muss durch die Form vertilgt werden.“ Schiller ging beispielsweise bei seinen Gedichten oft von einem musikalischen Motiv, von einer innerlich erlebten Melodie aus, die er lange mit sich herumtrug, ehe er dann einen geeigneten Stoff, einen passenden Inhalt suchte, dem er diese melodische Form einverleiben konnte. Diese melodische Form ist das eigentliche künstlerische Element, der wahre geistige Gehalt des Gedichts. Goethes Dichtungen wiederum liegt oft sehr deutlich ein bildhaft-malerisches Erleben zugrunde, was bei ihm, dem geborenen Augenmenschen, der lange nicht wusste, ob in der Dichtkunst oder in der Malerei seine künstlerische Berufung liegt, nicht weiter verwundert. Diese Ebene der Dichtungen, das malerisch-plastisch-musikalische Element, muss man erfassen, wenn man sich ihren wahren geistigen Wurzeln nähern will. Das gilt ganz besonders auch für Rudolf Steiners Mysteriendramen.
Der ästhetische Genuss
Die Kunst soll also im unmittelbaren sinnlichen Erleben erfasst werden. Nur ist im ästhetischen Genuss – und Kunstwerke sollen genossen werden als eine ganz besondere Art wertvoller Seelennahrung – das sinnliche Erleben gegenüber den gewohnten alltäglichen Erfahrungen auf eine höhere Ebene gehoben. Das Sinnliche erscheint hier schon unmittelbar als ein Geistiges. So hat es schon 1888 Rudolf Steiner als den wesentlichen Charakterzug von Goethes künstlerischem Schaffen beschrieben in seinem Vortrag „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“. Steiner hatte damit als Erster in philosophischer Sprache das ästhetische Prinzip formuliert, das unausgesprochen Goethes Schaffen zu Grunde lag und zugleich weit über diesen hinaus in die Zukunft weist. Gemäß dieses Prinzips ist das Schöne nicht die Erscheinung eines Ideellen, eines Geistigen, im sinnlichen Kleide, sondern es entsteht vielmehr umgekehrt aus einer solchen Umgestaltung und Erhöhung des Sinnlich-Tatsächlichen, dass dieses selbst, so wie es uns vor Augen steht, bereits als ein Ideelles, als ein Geistiges erscheint. In der Natur draußen und auch im menschlichen Leben kommt das, was als Geistiges darin waltet, nur bruchstückhaft und unvollständig zur Geltung und wird durch mancherlei Zufälligkeiten des äußeren Lebens verdeckt. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, den Schutt der unwesentlichen Zufälligkeiten beiseite zu räumen, und das was in der Natur und im menschlichen Leben zwar veranlagt, aber nicht zu Ende geführt ist, zur vollständigen Erscheinung zu bringen:
„Merck bezeichnet einmal Goethes Schaffen mit den Worten: «Dein Bestreben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.» Damit ist ungefähr dasselbe gesagt wie mit Goethes Worten im zweiten Teil des «Faust»: «Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.» Es ist deutlich gesagt, worauf es in der Kunst ankommt. Nicht auf ein Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um ein Umgestalten des Sinnlich-Tatsächlichen. Das Wirkliche soll nicht zum Ausdrucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen Selbständigkeit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt bekommen, eine Gestalt, in der es uns befriedigt. Indem wir irgendein Einzelwesen aus dem Kreise seiner Umgebung herausheben und es in dieser gesonderten Stellung vor unser Auge stellen, wird uns daran sogleich vieles unbegreiflich erscheinen. Wir können es mit dem Begriffe, mit der Idee, die wir ihm notwendig zugrunde legen müssen, nicht in Einklang bringen. Seine Bildung in der Wirklichkeit ist eben nicht nur die Folge seiner eigenen Gesetzlichkeit, sondern es ist die angrenzende Wirklichkeit unmittelbar mitbestimmend. Hätte das Ding sich unabhängig und frei, unbeeinflußt von anderen Dingen entwickeln können, dann nur lebte es seine eigene Idee dar. Diese dem Dinge zugrunde liegende, aber in der Wirklichkeit in freier Entfaltung gestörte Idee muß der Künstler ergreifen und sie zur Entwickelung bringen. Er muß in dem Objekte den Punkt finden, aus dem sich ein Gegenstand in seiner vollkommensten Gestalt entwickeln läßt, in der er sich aber in der Natur selbst nicht entwickeln kann. Die Natur bleibt eben in jedem Einzelding hinter ihrer Absicht zurück; neben dieser Pflanze schafft sie eine zweite, dritte und so fort; keine bringt die volle Idee zu konkretem Leben; die eine diese, die andere jene Seite, soweit es die Umstände gestatten. Der Künstler muß aber auf das zurückgehen, was ihm als die Tendenz der Natur erscheint. Und das meint Goethe, wenn er sein Schaffen mit den Worten ausspricht: «Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt.» Beim Künstler muß das ganze Äußere seines Werkes das ganze Innere zum Ausdruck bringen; beim Naturprodukt bleibt jenes hinter diesem zurück, und der forschende Menschengeist muß es erst erkennen. So sind die Gesetze, nach denen der Künstler verfährt, nichts anderes als die ewigen Gesetze der Natur, aber rein, unbeeinflußt von jeder Hemmung. Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst zugrunde, sondern was sein könnte, nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche. Der Künstler schafft nach denselben Prinzipien, nach denen die Natur schafft; aber er behandelt nach diesen Prinzipien die Individuen, während, um mit einem Goetheschen Worte zu reden, die Natur sich nichts aus den Individuen macht. «Sie baut immer und zerstört immer», weil sie nicht mit dem Einzelnen, sondern mit dem Ganzen das Vollkommene erreichen will. Der Inhalt eines Kunstwerkes ist irgendein sinnenfällig wirklicher - dies ist das Was; in der Gestalt, die ihm der Künstler gibt, geht sein Bestreben dahin, die Natur in ihren eigenen Tendenzen zu übertreffen, das, was mit ihren Mitteln und Gesetzen möglich ist, in höherem Maße zu erreichen, als sie es selbst imstande ist.
Der Gegenstand, den der Künstler vor uns stellt, ist vollkommener, als er in seinem Naturdasein ist; aber er trägt doch keine andere Vollkommenheit als seine eigene an sich. In diesem Hinausgehen des Gegenstandes über sich selbst, aber doch nur auf Grundlage dessen, was in ihm schon verborgen ist, liegt das Schöne. Das Schöne ist also kein Unnatürliches; und Goethe kann mit Recht sagen: «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben», oder an einem anderen Orte: «Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.» In demselben Sinne, in dem man sagen kann, das Schöne sei ein Unreales, Unwahres, es sei bloßer Schein, denn was es darstellt, finde sich in dieser Vollkommenheit nirgends in der Natur, kann man auch sagen: das Schöne sei wahrer als die Natur, indem es das darstellt, was die Natur sein will und nur nicht sein kann. Über diese Frage der Realität in der Kunst sagt Goethe: «Der Dichter» - und wir können seine Worte ganz gut auf die gesamte Kunst ausdehnen -, «der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können.» Goethe findet: «Es ist in der Natur nichts schön, was nicht naturgesetzlich als wahr motiviert wäre.» Und die andere Seite des Scheines, das Übertreffen des Wesens durch sich selbst, finden wir als Goethes Ansicht ausgesprochen in «Sprüchen in Prosa»: «In den Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung . . . Die Frucht kann nie schön sein, denn da tritt das vegetabilische Gesetz in sich (ins bloße Gesetz) zurück.» Nun, da haben wir es doch ganz deutlich, wo sich die Idee ausbildet und auslebt, da tritt das Schöne ein, wo wir in der äußeren Erscheinung unmittelbar das Gesetz wahrnehmen; wo hingegen, wie in der Frucht, die äußere Erscheinung formlos und plump erscheint, weil sie von dem der Pflanzenbildung zugrunde liegenden Gesetz nichts verrät, da hört das Naturding auf, schön zu sein. Deshalb heißt es in demselben Spruch weiter: «Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das Objektiv-Schöne hervor, welches freilich würdige Subjekte finden muß, von denen es aufgefaßt wird.» Und in entschiedenster Weise kommt diese Ansicht Goethes in folgendem Ausspruch zum Vorschein, den wir in den Gesprächen mit Eckermann finden (III. 108): «Der Künstler muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden . .. allein in den höhern Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten.» Als die höchste Aufgabe der Kunst bezeichnet Goethe: «durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben sei es aber, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrigbleibt.»“ (Lit.: GA 271, S 13ff)
Diesem ästhetischen Prinzip fühlte sich Steiner verpflichtet und hat versucht, was Goethe in großartiger Weise in seinen Dichtungen gegeben hat, in bescheidener Weise mit seinen Mysteriendramen weiterzuführen, indem er das, was sich über den geistigen Entwicklungsweg des Menschen sonst nur in allgemeinen Begriffen umreißen lässt, in vollständig individualisierter Form durch die handelnden Personen seiner Dramen auf die Bühne stellte.
Weiter sagt Steiner in dem genannten Vortrag:
„Fragen wir uns jetzt einmal nach dem Grund des Vergnügens an Gegenständen der Kunst. Vor allem müssen wir uns klar sein darüber, daß die Lust, welche an den Objekten des Schönen befriedigt wird, in nichts nachsteht der rein intellektuellen Lust, die wir am rein Geistigen haben. Es bedeutet immer einen entschiedenen Verfall der Kunst, wenn ihre Aufgabe in dem bloßen Amüsement, in der Befriedigung einer niederen Lust gesucht wird. Es wird also der Grund des Vergnügens an Gegenständen der Kunst kein anderer sein als jener, der uns gegenüber der Ideenwelt überhaupt jene freudige Erhebung empfinden läßt, die den ganzen Menschen über sich selbst hinaushebt. Was gibt uns nun eine solche Befriedigung an der Ideenwelt? Nichts anderes als die innere himmlische Ruhe und Vollkommenheit, die sie in sich birgt. Kein Widerspruch, kein Mißton regt sich in der in unserem eigenen Innern aufsteigenden Gedankenwelt, weil sie ein Unendliches in sich ist. Alles, was dieses Bild zu einem vollkommenen macht, liegt in ihm selbst. Diese der Ideenwelt eingeborene Vollkommenheit, das ist der Grund unserer Erhebung, wenn wir ihr gegenüberstehen. Soll uns das Schöne eine ähnliche Erhebung bieten, dann muß es nach dem Muster der Idee aufgebaut sein. Und dies ist etwas ganz anderes, als was die deutschen idealisierenden Ästhetiker wollen. Das ist nicht die «Idee in Form der sinnlichen Erscheinung», das ist das gerade Umgekehrte, das ist eine «sinnliche Erscheinung in der Form der Idee». Der Inhalt des Schönen, der demselben zugrunde liegende Stoff ist also immer ein Reales, ein unmittelbar Wirkliches, und die Form seines Auftretens ist die ideelle. Wir sehen, es ist gerade das Umgekehrte von dem richtig, was die deutsche Ästhetik sagt; diese hat die Dinge einfach auf den Kopf gestellt. Das Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich-wirklichen Gewande; nein, es ist das Sinnlich-Wirkliche in einem göttlichen Gewande. Der Künstler bringt das Göttliche nicht dadurch auf die Erde, daß er es in die Welt einfließen läßt, sondern dadurch, daß er die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt. Das Schöne ist Schein, weil es eine Wirklichkeit vor unsere Sinne zaubert, die sich als solche wie eine Idealwelt darstellt. Das Was bedenke, mehr bedenke Wie, denn in dem Wie liegt es, worauf es ankommt. Das Was bleibt ein Sinnliches, aber das Wie des Auftretens wird ein Ideelles. Wo diese ideelle Erscheinungsform am Sinnlichen am besten erscheint, da erscheint auch die Würde der Kunst am höchsten. Goethe sagt darüber: «Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie ausdrückt.» Die Ästhetik nun, die von der Definition ausgeht: «das Schöne ist ein sinnliches Wirkliche, das so erscheint, als wäre es Idee», diese besteht noch nicht. Sie muß geschaffen werden. Sie kann schlechterdings bezeichnet werden als die «Ästhetik der Goetheschen Weltanschauung». Und das ist die Ästhetik der Zukunft. Auch einer der neuesten Bearbeiter der Ästhetik, Eduard von Hartmann, der in seiner «Philosophie des Schönen» ein ganz ausgezeichnetes Werk geschaffen hat, huldigt dem alten Irrtum, daß der Inhalt des Schönen die Idee sei. Er sagt ganz richtig, der Grundbegriff, wovon alle Schönheitswissenschaft auszugehen hat, sei der Begriff des ästhetischen Scheines. Ja, aber ist denn das Erscheinen der Idealwelt als solcher je als Schein zu betrachten! Die Idee ist doch die höchste Wahrheit; wenn sie erscheint, so erscheint sie eben als Wahrheit und nicht als Schein. Ein wirklicher Schein aber ist es, wenn das Natürliche, Individuelle in einem ewigen, unvergänglichen Gewände, ausgestattet mit dem Charakter der Idee, erscheint; denn dieses kommt ihr eben in Wirklichkeit nicht zu.
In diesem Sinne genommen, erscheint uns der Künstler als der Fortsetzer des Weltgeistes; jener setzt die Schöpfung da fort, wo dieser sie aus den Händen gibt.“ (Lit.: GA 271, S 13ff)