Das Wesen der Kunst

Wahre Kunst spricht durch sich selbst

Wahre Kunst spricht durch sich selbst, sie bedarf keiner Auslegung, keiner Interpretation. Sie will im unmittelbaren sinnlichen Erleben erfasst werden. Aber dieses sinnliche Erleben ist zugleich ein übersinnliches, ganz in dem Sinne, wie Goethe in seiner Farbenlehre von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben spricht. Erst wo das innere geistige Licht dem äußeren sinnlichen Licht begegnet, beginnt die bewusste Wahrnehmung. Das gilt schon für jede alltägliche Wahrnehmung und natürlich auch für jede Sinnessphäre, nicht nur für das Sehen, sondern ebenso für das Hören, Riechen, Schmecken usw. Das sinnliche Licht lockt das geistige Licht in der Seele hervor, es ist nur eine Anregung, ein Wegweiser, der über sich selbst hinaus deutet. Die Realität der Farbe - wie jeder anderen erlebten Sinnesqualität - liegt in der Seelenwelt. Wenn die Seele das äußere Licht nicht ergreift, ist der Mensch blind - trotz gesunder Sinne. Die Kunst erfordert noch ein viel feineres Wahrnehmungsvermögen. Und so bleiben viele, die zwar sehend  sind, doch stumpf und blind und taub für das wahre Wesen eines Kunstwerks.

Etwas davon empfindet auch Doktor Strader im ersten Mysterendrama Steiners, als er zutiefst erschüttert vor dem Portät des Capesius steht, das Johannes Thomasius geschaffen hat:

Doch wenn zu eurem Bilde jetzt
Mein Blick sich wendet,
Vergess' ich alles, was den Denker lockt.
Es leuchtet meines Freundes Seelenkraft
Aus diesen Augen, die gemalt doch sind.
Es lebt des Forschers Sinnigkeit
Auf dieser Stirn;
Und seiner Worte edle Wärme,
Sie strahlt aus allen Farbentönen,
Durch welche euer Pinsel
Dies Rätsel löste.
O diese Farben, sie sind flächenhaft
Und sind es nicht,
Es ist, als ob sie sichtbar seien nur,
Um sich unsichtbar mir zu machen.
Und diese Formen,
Die als der Farbe Werk erscheinen,
Sie sprechen von dem Geistesweben,
Von vielem sprechen sie,
Was sie nicht selber sind.
Wo ist, wovon sie sprechen?
Nicht auf der Leinwand kann es sein;
Denn da sind geistentblößte Farben.
So ist es in Capesius?
Warum kann ich es nicht an ihm erschauen?
Thomasius, ihr habt gemalt,
Daß dies Gemalte sich durch sich
Im Augenblick vernichtet,
Sobald der Blick es fassen will.
Ich kann es nicht begreifen,
Wozu dies Bild mich treibt.
Was will von mir ergriffen sein?
Was soll ich suchen?
Die Leinwand, ich möchte sie durchstoßen,
Zu finden, was ich suchen soll
Wo fass' ich, was dies Bild
In meine Seele strahlt?
Ich muß es haben.
O, ich betörter Mann.
Es ist, als ob Gespenster mich berückten!
Ein unsichtbar Gespenst;
Und meine Ohnmacht,
Die kann es nicht erblicken.
Thomasius, ihr malt Gespenster,
Ihr zaubert sie in eure Bilder;
Sie locken, sie zu suchen,
Und lassen sich nicht finden.
---- O, wie sind eure Bilder grausam!
Die Pforte der Einweihung, 8. Bild

Straders Denken versagt an dieser Stelle. Mit dem abstrakten Verstand lässt sich das Kunstwerk nicht erfassen.

In den theosophischen Kreisen gab es oft die Unsitte, Kunstwerke schematisch nach den theosophischen Lehren auszulegen, etwa indem man in den einzelnen handelnden Personen den Wesensgliedern des Menschen zuordnete. Solch stroherne Abstraktionen schienen Rudolf Steiner völlig verfehlt:

„Wenn einen damals jemand gefragt hat: Welche Person ist Atma, welche ist Buddhi, welche Manas? - Es wäre eine gräßliche Kunst, eine fürchterliche Kunst, wenn man die Darstellung so interpretieren müßte: Diese Gestalt ist eine Personifikation von Manas. - Es gibt theosophische Unarten, die sich bemühen, alles in dieser Richtung auszulegen. Von dem Kunstwerk, das sich so interpretieren lassen müßte, könnte man sagen: Armes Kunstwerk! - Gegenüber Shakespeares Dramen jedenfalls wäre dies grundfalsch und lächerlich.

Solche Dinge sind Kinderkrankheiten der theosophischen Entwickelung. Man wird sie sich schon abgewöhnen. Aber es ist doch notwendig, daß auf diese Dinge auch einmal aufmerksam gemacht wird. Es könnte sogar vorkommen, daß sich jemand daran macht, die neun Glieder der menschlichen Natur in der Neunten Symphonie Beethovens aufzusuchen.“ (Lit.: GA 125, S 113)

Am leichtesten gelingt das unmittelbare künstlerische Erleben bei der Musik, die man noch am ehesten im unmittelbaren Hören genießt und direkt zum Gemüt sprechen lässt, ohne gleich nach einer intellektuellen Deutung zu verlangen – obwohl natürlich auch über musikalische Kompositionen ungezählte „gescheite“ Abhandlungen geschrieben werden. All das führt aber schon aus dem Wesen der Kunst heraus.

In der dramatischen Kunst ist es noch schwieriger, sich voll und ganz auf das unmittelbare Erleben einzulassen, denn hier ist ein gewisser gedanklicher Inhalt schon Teil des Werkes selbst – und dieser Teil wird heute zumeist als das Wesentliche, als der Kern der Sache selbst genommen. Man irrt, wenn man meint, in der gedanklichen Nacherzählung des Inhalts und den daran angeknüpften Deutungen schon irgendetwas Wesentliches zu haben. Der gedanklich fassbare Inhalt, das „Was“ des dramatischen Geschehens, ist nur die Spitze des Eisberges und eigentlich nur von untergeordneter Bedeutung. Hier gilt das schöne Wort aus Goethes Faust: „Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.“ Viel wichtiger ist die künstlerische Form, der Rhythmus und die Melodie der Sprache, der Klang, die Färbung und die Abfolge der Laute. „Der Stoff“, so sagt Schiller, „muss durch die Form vertilgt werden.“ Schiller ging beispielsweise bei seinen Gedichten oft von einem musikalischen Motiv, von einer innerlich erlebten Melodie aus, die er lange mit sich herumtrug, ehe er dann einen geeigneten Stoff, einen passenden Inhalt suchte, dem er diese melodische Form einverleiben konnte. Diese melodische Form ist das eigentliche künstlerische Element, der wahre geistige Gehalt des Gedichts. Goethes Dichtungen wiederum liegt oft sehr deutlich ein bildhaft-malerisches Erleben zugrunde, was bei ihm, dem geborenen Augenmenschen, der lange nicht wusste, ob in der Dichtkunst oder in der Malerei seine künstlerische Berufung liegt, nicht weiter verwundert. Diese Ebene der Dichtungen, das malerisch-plastisch-musikalische Element, muss man erfassen, wenn man sich ihren wahren geistigen Wurzeln nähern will. Das gilt ganz besonders auch für Rudolf Steiners Mysteriendramen.

Der ästhetische Genuss

Die Kunst soll also im unmittelbaren sinnlichen Erleben erfasst werden. Nur ist im ästhetischen Genuss – und Kunstwerke sollen genossen werden als eine ganz besondere Art wertvoller Seelennahrung – das sinnliche Erleben gegenüber den gewohnten alltäglichen Erfahrungen auf eine höhere Ebene gehoben. Das Sinnliche erscheint hier schon unmittelbar als ein Geistiges. So hat es schon 1888 Rudolf Steiner als den wesentlichen Charakterzug von Goethes künstlerischem Schaffen beschrieben in seinem Vortrag „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“. Steiner hatte damit als Erster in philosophischer Sprache das ästhetische Prinzip formuliert, das unausgesprochen Goethes Schaffen zu Grunde lag und zugleich weit über diesen hinaus in die Zukunft weist. Gemäß dieses Prinzips ist das Schöne nicht die Erscheinung eines Ideellen, eines Geistigen, im sinnlichen Kleide, sondern es entsteht vielmehr umgekehrt aus einer solchen Umgestaltung und Erhöhung des Sinnlich-Tatsächlichen, dass dieses selbst, so wie es uns vor Augen steht, bereits als ein Ideelles, als ein Geistiges erscheint. In der Natur draußen und auch im menschlichen Leben kommt das, was als Geistiges darin waltet, nur bruchstückhaft und unvollständig zur Geltung und wird durch mancherlei Zufälligkeiten des äußeren Lebens verdeckt. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, den Schutt der unwesentlichen Zufälligkeiten beiseite zu räumen, und das was in der Natur und im menschlichen Leben zwar veranlagt, aber nicht zu Ende geführt ist, zur vollständigen Erscheinung zu bringen:

Merck bezeichnet einmal Goethes Schaffen mit den Worten: «Dein Bestreben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.» Damit ist ungefähr dasselbe gesagt wie mit Goethes Worten im zweiten Teil des «Faust»: «Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.» Es ist deutlich gesagt, worauf es in der Kunst ankommt. Nicht auf ein Verkörpern eines Übersinnlichen, sondern um ein Umgestalten des Sinnlich-Tatsächlichen. Das Wirkliche soll nicht zum Ausdrucksmittel herabsinken: nein, es soll in seiner vollen Selbständigkeit bestehen bleiben; nur soll es eine neue Gestalt bekommen, eine Gestalt, in der es uns befriedigt. Indem wir irgendein Einzelwesen aus dem Kreise seiner Umgebung herausheben und es in dieser gesonderten Stellung vor unser Auge stellen, wird uns daran sogleich vieles unbegreiflich erscheinen. Wir können es mit dem Begriffe, mit der Idee, die wir ihm notwendig zugrunde legen müssen, nicht in Einklang bringen. Seine Bildung in der Wirklichkeit ist eben nicht nur die Folge seiner eigenen Gesetzlichkeit, sondern es ist die angrenzende Wirklichkeit unmittelbar mitbestimmend. Hätte das Ding sich unabhängig und frei, unbeeinflußt von anderen Dingen entwickeln können, dann nur lebte es seine eigene Idee dar. Diese dem Dinge zugrunde liegende, aber in der Wirklichkeit in freier Entfaltung gestörte Idee muß der Künstler ergreifen und sie zur Entwickelung bringen. Er muß in dem Objekte den Punkt finden, aus dem sich ein Gegenstand in seiner vollkommensten Gestalt entwickeln läßt, in der er sich aber in der Natur selbst nicht entwickeln kann. Die Natur bleibt eben in jedem Einzelding hinter ihrer Absicht zurück; neben dieser Pflanze schafft sie eine zweite, dritte und so fort; keine bringt die volle Idee zu konkretem Leben; die eine diese, die andere jene Seite, soweit es die Umstände gestatten. Der Künstler muß aber auf das zurückgehen, was ihm als die Tendenz der Natur erscheint. Und das meint Goethe, wenn er sein Schaffen mit den Worten ausspricht: «Ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt.» Beim Künstler muß das ganze Äußere seines Werkes das ganze Innere zum Ausdruck bringen; beim Naturprodukt bleibt jenes hinter diesem zurück, und der forschende Menschengeist muß es erst erkennen. So sind die Gesetze, nach denen der Künstler verfährt, nichts anderes als die ewigen Gesetze der Natur, aber rein, unbeeinflußt von jeder Hemmung. Nicht was ist, liegt also den Schöpfungen der Kunst zugrunde, sondern was sein könnte, nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche. Der Künstler schafft nach denselben Prinzipien, nach denen die Natur schafft; aber er behandelt nach diesen Prinzipien die Individuen, während, um mit einem Goetheschen Worte zu reden, die Natur sich nichts aus den Individuen macht. «Sie baut immer und zerstört immer», weil sie nicht mit dem Einzelnen, sondern mit dem Ganzen das Vollkommene erreichen will. Der Inhalt eines Kunstwerkes ist irgendein sinnenfällig wirklicher - dies ist das Was; in der Gestalt, die ihm der Künstler gibt, geht sein Bestreben dahin, die Natur in ihren eigenen Tendenzen zu übertreffen, das, was mit ihren Mitteln und Gesetzen möglich ist, in höherem Maße zu erreichen, als sie es selbst imstande ist.

Der Gegenstand, den der Künstler vor uns stellt, ist vollkommener, als er in seinem Naturdasein ist; aber er trägt doch keine andere Vollkommenheit als seine eigene an sich. In diesem Hinausgehen des Gegenstandes über sich selbst, aber doch nur auf Grundlage dessen, was in ihm schon verborgen ist, liegt das Schöne. Das Schöne ist also kein Unnatürliches; und Goethe kann mit Recht sagen: «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben», oder an einem anderen Orte: «Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.» In demselben Sinne, in dem man sagen kann, das Schöne sei ein Unreales, Unwahres, es sei bloßer Schein, denn was es darstellt, finde sich in dieser Vollkommenheit nirgends in der Natur, kann man auch sagen: das Schöne sei wahrer als die Natur, indem es das darstellt, was die Natur sein will und nur nicht sein kann. Über diese Frage der Realität in der Kunst sagt Goethe: «Der Dichter» - und wir können seine Worte ganz gut auf die gesamte Kunst ausdehnen -, «der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können.» Goethe findet: «Es ist in der Natur nichts schön, was nicht naturgesetzlich als wahr motiviert wäre.» Und die andere Seite des Scheines, das Übertreffen des Wesens durch sich selbst, finden wir als Goethes Ansicht ausgesprochen in «Sprüchen in Prosa»: «In den Blüten tritt das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose wäre nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung . . . Die Frucht kann nie schön sein, denn da tritt das vegetabilische Gesetz in sich (ins bloße Gesetz) zurück.» Nun, da haben wir es doch ganz deutlich, wo sich die Idee ausbildet und auslebt, da tritt das Schöne ein, wo wir in der äußeren Erscheinung unmittelbar das Gesetz wahrnehmen; wo hingegen, wie in der Frucht, die äußere Erscheinung formlos und plump erscheint, weil sie von dem der Pflanzenbildung zugrunde liegenden Gesetz nichts verrät, da hört das Naturding auf, schön zu sein. Deshalb heißt es in demselben Spruch weiter: «Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt, in der größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das Objektiv-Schöne hervor, welches freilich würdige Subjekte finden muß, von denen es aufgefaßt wird.» Und in entschiedenster Weise kommt diese Ansicht Goethes in folgendem Ausspruch zum Vorschein, den wir in den Gesprächen mit Eckermann finden (III. 108): «Der Künstler muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden . .. allein in den höhern Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten.» Als die höchste Aufgabe der Kunst bezeichnet Goethe: «durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben sei es aber, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrigbleibt.»“ (Lit.: GA 271, S 13ff)

Diesem ästhetischen Prinzip fühlte sich Steiner verpflichtet und hat versucht, was Goethe in großartiger Weise in seinen Dichtungen gegeben hat, in bescheidener Weise mit seinen Mysteriendramen weiterzuführen, indem er das, was sich über den geistigen Entwicklungsweg des Menschen sonst nur in allgemeinen Begriffen umreißen lässt, in vollständig individualisierter Form durch die handelnden Personen seiner Dramen auf die Bühne stellte.

Weiter sagt Steiner in dem genannten Vortrag:

„Fragen wir uns jetzt einmal nach dem Grund des Vergnügens an Gegenständen der Kunst. Vor allem müssen wir uns klar sein darüber, daß die Lust, welche an den Objekten des Schönen befriedigt wird, in nichts nachsteht der rein intellektuellen Lust, die wir am rein Geistigen haben. Es bedeutet immer einen entschiedenen Verfall der Kunst, wenn ihre Aufgabe in dem bloßen Amüsement, in der Befriedigung einer niederen Lust gesucht wird. Es wird also der Grund des Vergnügens an Gegenständen der Kunst kein anderer sein als jener, der uns gegenüber der Ideenwelt überhaupt jene freudige Erhebung empfinden läßt, die den ganzen Menschen über sich selbst hinaushebt. Was gibt uns nun eine solche Befriedigung an der Ideenwelt? Nichts anderes als die innere himmlische Ruhe und Vollkommenheit, die sie in sich birgt. Kein Widerspruch, kein Mißton regt sich in der in unserem eigenen Innern aufsteigenden Gedankenwelt, weil sie ein Unendliches in sich ist. Alles, was dieses Bild zu einem vollkommenen macht, liegt in ihm selbst. Diese der Ideenwelt eingeborene Vollkommenheit, das ist der Grund unserer Erhebung, wenn wir ihr gegenüberstehen. Soll uns das Schöne eine ähnliche Erhebung bieten, dann muß es nach dem Muster der Idee aufgebaut sein. Und dies ist etwas ganz anderes, als was die deutschen idealisierenden Ästhetiker wollen. Das ist nicht die «Idee in Form der sinnlichen Erscheinung», das ist das gerade Umgekehrte, das ist eine «sinnliche Erscheinung in der Form der Idee». Der Inhalt des Schönen, der demselben zugrunde liegende Stoff ist also immer ein Reales, ein unmittelbar Wirkliches, und die Form seines Auftretens ist die ideelle. Wir sehen, es ist gerade das Umgekehrte von dem richtig, was die deutsche Ästhetik sagt; diese hat die Dinge einfach auf den Kopf gestellt. Das Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich-wirklichen Gewande; nein, es ist das Sinnlich-Wirkliche in einem göttlichen Gewande. Der Künstler bringt das Göttliche nicht dadurch auf die Erde, daß er es in die Welt einfließen läßt, sondern dadurch, daß er die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt. Das Schöne ist Schein, weil es eine Wirklichkeit vor unsere Sinne zaubert, die sich als solche wie eine Idealwelt darstellt. Das Was bedenke, mehr bedenke Wie, denn in dem Wie liegt es, worauf es ankommt. Das Was bleibt ein Sinnliches, aber das Wie des Auftretens wird ein Ideelles. Wo diese ideelle Erscheinungsform am Sinnlichen am besten erscheint, da erscheint auch die Würde der Kunst am höchsten. Goethe sagt darüber: «Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie ausdrückt.» Die Ästhetik nun, die von der Definition ausgeht: «das Schöne ist ein sinnliches Wirkliche, das so erscheint, als wäre es Idee», diese besteht noch nicht. Sie muß geschaffen werden. Sie kann schlechterdings bezeichnet werden als die «Ästhetik der Goetheschen Weltanschauung». Und das ist die Ästhetik der Zukunft. Auch einer der neuesten Bearbeiter der Ästhetik, Eduard von Hartmann, der in seiner «Philosophie des Schönen» ein ganz ausgezeichnetes Werk geschaffen hat, huldigt dem alten Irrtum, daß der Inhalt des Schönen die Idee sei. Er sagt ganz richtig, der Grundbegriff, wovon alle Schönheitswissenschaft auszugehen hat, sei der Begriff des ästhetischen Scheines. Ja, aber ist denn das Erscheinen der Idealwelt als solcher je als Schein zu betrachten! Die Idee ist doch die höchste Wahrheit; wenn sie erscheint, so erscheint sie eben als Wahrheit und nicht als Schein. Ein wirklicher Schein aber ist es, wenn das Natürliche, Individuelle in einem ewigen, unvergänglichen Gewände, ausgestattet mit dem Charakter der Idee, erscheint; denn dieses kommt ihr eben in Wirklichkeit nicht zu.

In diesem Sinne genommen, erscheint uns der Künstler als der Fortsetzer des Weltgeistes; jener setzt die Schöpfung da fort, wo dieser sie aus den Händen gibt.“ (Lit.: GA 271, S 13ff)